„Viele Blüten, aber wenig Früchte“
>> Starten wir mit einem Gedankenspiel, Herr Dr. Gantner: Hätten smarte Konzepte den Umgang mit der Krise erleichtern können, trotz des niedrigen Digitalisierungsgrads des Gesundheitswesens, dessen Steigerung sich grundsätzlich ja nicht von heute auf morgen umsetzen lässt? An welchen Stellen?
Kritik aus dem Lehnstuhl zu üben, wenn man in einer Zukunft angekommen ist, die keiner vorhersehen konnte, ist leicht und nicht besonders innovativ. Deshalb ist es mir wichtig, da gar nicht erst einzustimmen, sondern konstruktiv und kreativ zu sein und über Dinge zu sprechen, die ich selbst verantworten und überblicken kann und auch nach einem Jahr immer noch für richtig halte. Meines Erachtens gibt es drei Wege aus der Krise, das heißt einer bezeichneten Notfallsituation:
• Absolute Machtausübung, z. B. durch Lockdown,
• Absolutes Vertrauen, z. B. in wissenschaftliche Erkenntnisse, in eine Impfung und
• Absolute Transparenz, z. B. durch das Erheben und Teilen von Daten.
Da die Krise dieses Umfangs zustande kam, weil wir moderne Technologien (Fernreisen etc.) nutzen, hätte man auch mehr auf moderne Technologien setzen können, um diese Krise zu bekämpfen.
An was denken Sie da genau?
Ich denke dabei insbesondere an das Thema der altruistischen Datenspende. Wir haben seit Februar 2020 die Seite www.fasterthancorona.org als multinationales privat organisiertes pro Bono Projekt online, die plattformunabhängig und international Datenspenden zu Covid-19 Verläufen entgegennimmt. Diese Daten werden mithilfe von KI-Algorithmen ausgewertet mit dem Ziel, Muster in Daten zu erkennen und im Nachgang mit naturwissenschaftlichen Methoden daran zu gehen, herauszufinden, welche biologischen Substrate ihnen zugrunde liegen. Hinter Daten liegt also Biologie. Daher sprechen wir von computergenerierten Biomarkern.
Was hätte das in der Krisensituation bedeutet? Was hätte man damit machen können?
Anstatt über Datenschutz zu lamentieren, hätte man das Momentum auch nutzen und die Datenspende als ein weiteres Instrument im Werkzeugkasten der Epidemiologie erproben können. Es ist jetzt nicht die Zeit, sich auf linear weiter gedachten Lösungen auszuruhen. Wir sollten weiter an der Zukunft entwickeln und auch weniger ausgetretene Pfade nutzen. Natürlich kann noch niemand wissen, welcher Weg sich als der am besten geeignete erwiesen haben wird. Bedeutet das, dass wir ihn deshalb nicht suchen und dann gehen sollten? Am Ende freuen wir uns dann darüber, dass irgendwer anders es gewagt hat. Dinge sind bekanntlich nur so lange unmöglich, bis sie jemand macht, der davon nichts wusste. Mich ärgert, dass wir so etwas auch selbst könnten und es uns nicht zutrauen. Nachsicht mit sich selbst ist ein Wesenszug, den nimmt, wer den Beginn der Zukunft verpasst hat.
Was passiert denn mit den gespendeten Daten?
Bei www.fasterthancorona.org stellen wir im Wege der Transparenz die anonymen gesammelten Daten auch interessierten Personen, die sich an unsere Governance-Strukturen halten und eine Forschungsfrage, die unser Ethik-Gremium zuerst bewertet, zur Verfügung. Das vermisse ich beispielsweise bei der RKI-App. Es wäre doch wichtig, dass diese Daten zugänglich sind und daraus Lehren gezogen werden können.
Interessanterweise hat sich am 22.11.2020 die EU dieses Themas angenommen und stellt gerade Weichen zum Bereich Datenspenden und Datensammeln. Auch die UNESCO interessiert sich für diesen Ansatz des Citizen Science und bürgerschaftlichen Engagements. Was wurde denn eigentlich aus all den Initiativen der ersten Monate, die stark darauf basierten und in Hackathons an Lösungen bastelten?
Es ist ja nicht alles schlecht: Das eRezept, die elektronische Patientenakte stehen in den Startlöchern. Wird das der Durchbruch?
Schlecht ist ja relativ zu dem, womit man sich vergleicht. Wir sind alle diesbezüglich bisher ganz gut durch die Pandemie gekommen. Klar könnte es besser gegangen sein, aber eben auch viel schlechter. Meines Erachtens geht es hier gar nicht so sehr um Technologie, es geht um ein Verständnis des Zusammenlebens und wie wir das gestalten möchten. Das eRezept könnte technologisch schon seit Jahren verwendbar sein und die Patientenakte existiert in der einen oder anderen Form ja auch schon lange. Die Frage ist doch immer: Wie gehen wir damit um und womit befüllen wir diese Datenbanken? Es geht um den Willen der handelnden Akteure, es geht um Abgrenzung, um Angst und um Umbruch. Es geht um Anreizsysteme und Selbstbilder und es geht um viel Geld. Das ist menschlich gut verstehbar, dass es ruckelt, aber es ist schade, dass es einer Krise bedarf, um das Offensichtliche zum Öffentlichen zu machen – und ich bin gespannt, was am Ende bleiben wird. Welche Teile der Arzt-Patienten-Beziehung lassen sich auch durch Telemedizin bei einer großen Bevölkerungsgruppe dauerhaft befriedigend abbilden? Ein Durchbruch ist ja nicht immer und für jeden nur gut. Fragen Sie mal einen Patienten mit Blinddarmentzündung.
Brauchen die Deutschen ein „gesünderes“ Verhältnis zum Thema Datenschutz und Datensicherheit?
Ich weiß nicht, was als „gesund“ zu bezeichnen ist. Meines Erachtens benötigen wir eine kundige Auseinandersetzung damit auf bürgerschaftlicher Ebene. Wir benötigen einen öffentlichen und unaufgeregten Diskurs, der jedes Individuum befähigt, sich eine gebildete Meinung dazu zu machen, so dass wir nicht hin und her schwanken zwischen dystoper apokalyptischer Gesundheitsdiktatur und euphorischer stumpfer Technikbegeisterung. Der Weg ist die Mündigkeit des Bürgers und ein gesellschaftlicher Konsens darüber, ob Datenschutz wirklich nur was für Gesunde ist oder ob er einen Wert an sich darstellt, den es zu schützen, aber eben auch lebendig und situativ zu gestalten gilt.
Ich bin auch überzeugt davon, dass es bereits gute Werkzeuge gibt und gute Initiativen von Seiten der EU, die jetzt in Länderrecht umgesetzt werden müssen. Der Data Governance Act ist einer davon. Er ermöglichet Datentreuhändertum und öffnet Interpretationsräume wie beispielsweise den, ob Daten, die über eine Datenspende von zertifizierten Datentreuhändern gesammelt und anonymisiert wurden, möglicherweise aus der DSGVO heraus gehoben werden können. Das würde die Strahlkraft solcher Datensätze um ein Vielfaches erhöhen. Ich glaube daran, dass ein gelassener und kundiger Diskurs dazu immunisiert und dazu beiträgt, klügere Entscheidungen zu treffen oder solche, die nicht mehr klug sind, zu revidieren.
Welche praktikable Möglichkeit gibt es zwischen der „digitalen Diktatur“ in China und dem „zahnlosen Papiertiger Deutschland“? An welchem Land könnte Deutschland sich in Sachen Digitalisierung des Gesundheitswesens orientieren?
Es geht hier nicht nur um Technologie. Es geht um Werte und Traditionen und die Definition dessen, wie wir in Zukunft zusammenleben möchten. Auch darum müssen wir immer wieder ringen und unsere Standorte neu verorten. Das ist doch gerade das Wesen einer Demokratie, dass wir im ergebnisoffenen und angstfreien Diskurs miteinander sind und keine Denkmaulkörbe haben. Das Internet und die Verfügbarkeit von Daten und Sensorik bringen diese Demokratisierung nun auch langsam in die Medizin. Die Technologie folgt dann bestenfalls unseren privaten Werten und öffentlichen Beschlüssen. Dazu müssen wir aber auch eine gewisse technologische Kompetenz mitbringen und es muss Möglichkeiten der gelebten Mitbestimmung geben.
Mein Eindruck ist, dass die Deutschen noch nicht so überzeugt von dieser Marschrichtung sind. Und noch ziemlich unsicher.
Wenn Bürgerinnen und Bürger sich eher ohnmächtig fühlen, wenn Innovationen keine Möglichkeit haben, in den Diskurs zu kommen, dann sollten wir hier nachjustieren. Ich bin begeistert von der Vielfalt an Ideen, die entstanden sind in den ersten Phasen der Pandemie. Jetzt ist die Zeit gekommen, hier nachzuhalten. Was wurde aus den Gedanken, die in den Hackathons entstanden sind? In welche Produkte und Maßnahmen haben sie gemündet? Ich glaube, es ist klug in andere Länder zu schauen, abzuwägen, was in die eigenen Strukturen passt und von anderen zu lernen, wie Strukturen verändert wurden und welche Erfahrungen mit Technologie gemacht wurde. Daraus sollten wir dann aber einen eigenen Weg entwickeln hin in einen Ideenraum der Umsetzung und den dann auch gehen. Es ist aber auch klar, dass es am Baum der Vorhersagen über die Zukunft viele Blüten aber wenig Früchte gibt. Dennoch ist das kein Grund, diesen Baum nicht gut zu düngen und zu pflegen. Vorfahrt für Vordenker, würde ich sagen und an eine Kardinaltugend erinnern. Geht mit mehr Mut durch die Krise. Dazu möchte ich auffordern: Vom Konjunktiv zum Indikativ zu kommen. Von „sollte, müsste, könnte“ zu „soll, muss und kann“. Dafür sind wir in Deutschland und Europa gut aufgestellt. Jetzt müssen wir es uns zutrauen und dann machen.
Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, um die Datenströme in Deutschland in Fluss zu bringen. Legt sie hier genug Tempo vor? Was bremst sie?
Es wäre Anmaßung von Wissen, wenn ich sagte, ich wüsste, wie schnell diese Prozesse im Moment laufen. Dazu fehlt mir der Überblick. Ich bin Unternehmer und kein Politiker. Ich kenne nur ein paar Ecken meiner Blase. Was ich sehe ist jedoch, dass genau die Personen, die beispielsweise noch vor 15 Monaten alles daran gesetzt haben, die Ohnearztpraxis, also die digitale, telemedizinische ländliche Zweigstelle von Arztpraxen, zu verhindern, nun so tun, als wären sie schon immer für Telemedizin gewesen. Es geht nicht nur um Datenströme in Glasfaserkabeln zu Computern, es geht um Impulse ins Bewusstsein der Akteure, der wichtigste Schaltkasten ist das Gehirn der Entscheider, nicht der Prozessor in Serverräumen. Wir müssen uns klar darüber sein, dass sich Rahmenbedingungen nun geändert haben und noch weiter ändern und dass man sich darauf einstellen muss. Ich plädiere dafür, nicht nur zu reden, sondern zu machen, zu gestalten und auch mal etwas zu wagen. Unsere Angst davor, etwas falsch machen zu können bremst uns. Aber: Wie haben wir denn Laufen gelernt? Doch von Fall zu Fall.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat 2019 den hih – health innovation hub ins Leben gerufen. „Gesundheit neu denken“ war das Motto. Trägt das Invest bisher Früchte?
Ja, auf jeden Fall. Ich finde die Inneneinrichtung an der Torstraße in Berlin echt gut gelungen.
An welchen Stellen sehen Sie die Möglichkeit der einfachen, zeitnahen Umsetzung der Digitalisierung von Prozessen, die die Pandemiebewältigung effizienter machen können? Und: Von welchen Stakeholdern im Gesundheitssystem könnten diese kommen?
Die Pandemie läuft ja nicht nur in Krankheitswellen, sondern auch in Erkenntniswellen. Die erste Welle brachte unser Datenschutzkonzept ins Schlingern, die zweite Welle zeigte, wie es um unser Bildungswesen bestellt ist, die dritte Welle legt Schwierigkeiten bei der Impflogistik und dem Demokratieverständnis von Impfvordränglern offen und wir werden wohl noch mehr lernen können, wenn weitere Wellen kommen.
Welche Handlungsoptionen sehen Sie?
Ich glaube, dass wir das Konzept der altruistischen Datenspende weiter ausbauen sollten. Es ist doch so, dass diese Daten ohnehin passieren und wir eine immer leichter werdende Auswahl an Möglichkeiten haben, solche Daten zu sammeln. Mir scheint es gar ein ethisches Thema zu sein, das eben nicht zu tun und mögliche Erkenntnisse einfach an uns vorbeiziehen zu lassen. Ich stelle mir das vor, als stellte man sich durstig in den Regen und erlaube sich nicht den Mund aufzumachen oder mit den Händen das Wasser zu sammeln. Mit der Datenspende und dem Zusammenführen verschiedener Datenquellen sowie einer KI-gestützten Auswertung können neue Hypothesen generiert werden. Wir könnten zügiger herausfinden, ob das Öffnen von Kitas und Schulen riskant ist und wie Superspreader-Ereignisse funktionieren oder welche Populationen ein erhöhtes Risiko haben. Wir kämen durch die Pandemie mit einem Schild und nicht mehr mit einer Ritterrüstung – umso beweglicher wären wir. Dabei sind Daten und Datenauswertungen nur ein weiteres, aber eben zeitgemäßes Werkzeug. Hierfür benötigt man aber politischen Konsens und davor erst einmal die unaufgeregte intellektuelle Auseinandersetzung mit der Technologie.
Fällt Ihnen eine weitere Gestaltungsmöglichkeit ein?
Auch beim Thema Impfen könnten wir schneller sein. Es würde mich nicht wundern, wenn einzelne Einrichtungen und Länder von Menschen fälschungssichere Nachweise eines Impfstatus einfordern. Wir haben das ja bereits bei der Diskussion darum, ob Geimpfte mehr Freiheitsrechte haben sollen als solche, die nicht geimpft sind. Dabei frage ich mich, wie man denn den Beweis erbringen möchte, entsprechend geimpft zu sein. Da Gesundheit ein hohes Gut ist und schon die Einreise einer einzelnen Person mit einer Virus-Variante fatal sein kann, kann ich mir vorstellen, dass an Ländergrenzen wie z. B. den USA streng kontrolliert werden wird. Man wird das nicht auf Treu und Glauben machen, sondern man wird hier möglicherweise auch Fälschungssicherheit und Zurückverfolgbarkeit der Impfdarreichung einfordern. Das kann der gelbe WHO-Impfausweis in seiner verbreiteten Form nicht liefern. Hier könnte aber z. B. die Blockchain helfen oder andere digitale Technologien.
Wie bringt man diese Technologien dann zum Bürger?
Wichtig ist, die Bevölkerung viel mehr zu informieren und zwar auf den Kanälen und in der Sprache, die ankommt. Dazu kann man durchaus digitale Wege nutzen, aber digital ist das Mittel, nicht der Zweck, daher geht es auch nicht um eine Überhöhung des Digitalen, sondern um dessen vernünftigen Einsatz. Gerade in Gebieten mit Bevölkerung, die bildungsfern ist, wird Information entscheidend sein, um die Pandemie einzudämmen. Wie funktioniert der Impfstoff? Wer kann geimpft werden? Warum eigentlich impfen? Etc. Hier können niederschwellige Digitalprogramme helfen.
Auch die Telemedizin kann dabei helfen, das Krankheitsgeschehen beherrschbar zu machen und trotzdem Betroffene nicht in Gefahr zu bringen. Gerade chronische Patienten könnten noch mehr davon profitieren, Routinebesuche per Videosprechstunde durchzuführen. Es fehlt ein Curriculum zur Ausbildung zur Telemedizin, in dem alles abgedeckt wird, von Abrechnung bis Zertifizierung und das die Telemedizin nicht mehr als einen Notbehelf ansieht, sondern als eine vollwertige Methode, den Kontakt zwischen Ärzt*in und Patient*in herzustellen und beide auch entsprechend schützen kann.
Aktuell wird über die Antigen-Schnelltests breit diskutiert. Kann die Technologie hier vielleicht ebenfalls unterstützen?
Es ist meiner Einschätzung nach auch im Rahmen des Möglichen, die Schnelltests an Smartphones zu koppeln, so dass sie auch eine flächige Wirkung und dokumentatorischen Charakter entfalten können. Nur die gemeinschaftliche Verantwortung und das Einstehen des einen für den anderen kann uns so wirklich Sicherheit geben. In einem solidarisch verfassten Gesundheitswesen und einem demokratischen Gemeinwesen sollten wir auch mal wieder darüber nachdenken und nicht zuerst über Technologie, denn Medizin ist Beziehung und die Technologie deren Unterstützerin.
Vielen Dank für Ihre Meinung, Herr Dr. Gantner. <<
Dr. med. Tobias Gantner ist Arzt und Unternehmer. Der studierte Ökonom, Jurist und Philosoph ist Gründer und Geschäftsführer der Healthcare Futurists GmbH, einem internationalen Netzwerk von innovativen Unternehmen, Think-Tank und Make-Tank. Als Mediziner, Entrepreneur und Zukunftsgestalter ist der mehrfach ausgezeichnete frühere Chirurg mit Führungserfahrung bei DAX Konzernen ein gefragter Gesprächs- und Umsetzungspartner bei Produktneuentwicklungen. Mit seinem Team um das HealthCare MakerMobil (www.healthcaremakermobil.com) hat er ein mobiles innovation.lab aufgebaut, das vor Ort digitale Lösungen erstellen kann. Er ist Vortragender zu den Themen der digitalen Transformation des Gesundheitswesens, und gegenwärtig besonders engagiert auf dem Gebiet der Technikfolgeabschätzung, Patientenbeteiligung und der Demokratisierung des Gesundheitswesens.
Kontakt: tobias.gantner@healthcarefuturists.com