Von Amazon lernen
>> Im vergangenen Herbst haben Sie ein neues Go-to-Market Omnichannel-Modell für die Einführung eines Medikaments eingeführt, worum geht es dabei genau?
Gemeinsam mit unserem Kunden im Vereinigten Königreich, dessen Namen ich hier leider nicht nennen kann, bringen wir ein neues Medikament auf den Markt – mit drei grundlegenden Veränderungen in der Kommunikation und im Marketing. Erstens arbeitet der Kunde im Rahmen eines offenen Innovationsansatzes eng mit den – auch staatlichen – Gesundheitsdienstleistern zusammen. Diese offene Beziehung bedeutet, dass die Markteinführung ohne Außendienstmitarbeiter:innen erfolgen kann, da ein direkter Zugang besteht. Und schließlich – drittens – werden alle Kund:innenbeziehungen, Dienstleistungen und die gesamte Customer Journey mit Hilfe von Daten und digitaler Technologie verwaltet.
Warum digital-first?
Wir wollten nicht nur eine Marke einführen, sondern die Gelegenheit für die digitale Transformation mit Omnichannel und Data-Driven Marketing insgesamt nutzen. Dabei mussten wir unsere Kreativität nutzen und erstmal die besten Talente von FCB Health und Solve(d) zusammenbringen, um eine digitale Marketingstrategie und ein Go-to-Market-Modell zu entwickeln. Dazu nutzten wir COM-B und Verhaltensänderungen als Grundlage für unseren inhaltlichen Ansatz, Analysen und Daten zur Unterstützung der Personalisierung sowie einen integrierten Prozess zur Planung der Kund:innenansprache. Wir haben den ersten echten Non-F2F-Engagementplan mit Einzelkundenansicht und einem Analyse-Dashboard erstellt, wobei wir ein maßgeschneidertes Messmodell verwendet haben, da das, was wir tun, so einzigartig ist, dass wir neue Wege zur Messung benötigten.
Fangen wir von vorne an: Was war das Problem?
Jedes Jahr sterben weltweit viele Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, und dieses neue Medikament soll helfen, eine der weitverbreitetsten zu bekämpfen. Die Zahlen der Todesfälle entsprechen in etwa der Bevölkerung der Niederlande, den Rest müssen Sie sich selber denken. Und aufgrund von Ernährungsumstellungen in Ländern wie China oder Indien steigen die Zahlen weiter an, trotz aller Medikamente, die uns heute zur Verfügung stehen.
Die derzeitige Standardbehandlung ist unpopulär und unbequem, da der Wirkstoff täglich eingenommen werden muss und unangenehme Nebenwirkungen haben kann. Außerdem spüren die Patient:innen den Nutzen nicht, nehmen das Medikament unregelmäßig und vielfach auch falsch ein.
Und das bedeutet?
Das kostet die Gesundheitssysteme in Großbritannien viel Geld. Geld, das anderswo besser investiert werden könnte. Viele Regierungen haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, diese Zahlen zu senken. Der Handlungsbedarf ist gewaltig. Unser Kunde hier im Vereinigten Königreich hat jetzt ein Produkt entwickelt, das anders wirkt und ohne bekannte Nebenwirkungen seltener eingenommen werden kann, was den Ärzt:innen erleichtert, die Behandlung durchzuführen.
Warum bringt das Pharmaunternehmen das Produkt nicht wie üblich über Pharmareferent:innen auf den Markt?
Die COVID-19-Pandemie hat uns im gesamten Gesundheitssektor unglaublich viel gelehrt, vor allem über die Vorteile von offenen Innovationsmodellen, Remote-Engagement und Digitalisierung. Silos brechen auf. Der Handlungsbedarf und der Leidensdruck durch die Corona-Pandemie haben Regierungen und einzelne Unternehmen dazu veranlasst, in großem Maßstab direkt, schnell und effizient zusammenzuarbeiten.
Wer ist der Initiator oder die treibende Kraft hinter diesem neuen Ansatz?
Unser Kunde, ein großes, weltweit tätiges Pharmaunternehmen, macht gerade große Schritte. Insgesamt – also nicht nur beim Marketing – verändert es seinen Ansatz und überdenkt die gesamte Arbeitsweise, wie Innovationen vorangetrieben werden können. Das Unternehmen wird insgesamt agiler und treibt die Digitalisierung in allen Bereichen voran. Und das nicht als Aufholjäger, sondern als Trendsetter. Das bewundern wir als Agenturpartner.
Zurück zur konkreten Produkteinführung: Hier gibt es natürlich viele verschiedene Akteure. Wir als FCB Health sind Teil eines Ganzen und geben ebenso viele Impulse, wie wir die Impulse der anderen aufnehmen. Wichtig aber ist, wir ziehen alle an einem Strang.
Was genau ist der Unterschied?
Traditionell würden wir eine Werbekampagne vorbereiten – mit Printanzeigen, Broschüren und einer detaillierten Hilfe für die Pharmavertreter:innen, die sie bei den Ärzt:innen und möglicherweise bei den Patient:innen einsetzen. Überspitzt gesagt: Die klassische Einbahnstraße, bei der wir dem Kunden eine Botschaft „aufdrängen“. In sechs Monaten würden wir das erste Feedback haben und auswerten. Ich will nicht sagen, dass das schlecht ist, ich will nur sagen, dass das digitale Zeitalter, Daten und Plattformen uns heute einfach mehr bieten.
Was genau?
Wir ermöglichen den Kund:innnen, also den Ärtz:innen und Patient:innen, sich die Informationen zu holen, die sie brauchen und wünschen. Über unsere gemeinsam entwickelte Plattform spielen wir die gewünschten Informationen aus, erhalten sofortiges Feedback und arbeiten uns nach dem Baukastenprinzip an den Daten ab, d.h. wir fügen immer dann Informationen hinzu, wenn sie gewünscht sind und verbessern sie entsprechend der User Expe-rience. Dabei schaffen wir eine neue Gemeinschaft.
Eine neue Gemeinschaft – und was ist mit Datenschutz?
Nicht wir entscheiden, welche Informationen wann bei den Ärzt:innen ankommen, sondern sie zeigen uns, wann Interesse besteht, woran, in welchem Umfang und auch was fehlt. Alles datenschutzkonform. Das machen wir auch mit denjenigen, die opted-in sind, um Datenschutzprobleme zu vermeiden. Wir revolutionieren also die gesamte Customer Journey, flexibel und agil. Und wir können Impulse setzen, wenn das Interesse nachlässt. Communities spielen inzwischen überall eine zentrale Rolle, wir übertragen dieses Prinzip jetzt auf den Gesundheitsbereich und lernen ständig dazu. Wir haben viel von der Pandemie, aber auch vom FMCG-Marketing gelernt.
Ist die Pharmaindustrie hier im Rückstand?
Die Pharmaindustrie ist zu Recht vorsichtiger als zum Beispiel Amazon. Aber spannende Erkenntnisse aus der FMCG-Branche lassen sich auch auf die Gesundheitskommunikation übertragen, vor allem in Bezug auf die Marketingtechnologie. Medikamente sind keine Wimperntusche. Aber digitale Kommunikation kann unter bestimmten Umständen funktionieren und birgt viel Potenzial, um zum Beispiel durch den gezielten Einsatz von Daten Engagement zu schaffen – und das auch weit über die Ärzt:innen hinaus, in der medizinischen Community.
Verliert das nicht den einzelnen Menschen aus den Augen?
Die Botschaft des Kunden war klar: nur digital. Aber Vertrauen, Haltung und Zuverlässigkeit stehen im Mittelpunkt unseres gesamten Ansatzes. Auf der Grundlage von Daten entwickeln wir eine Logik, die empathisch von den Menschen ausgeht, und nicht von den Erwartungen des Pharmaunternehmens. Das bedeutete auch eine Verschiebung der Prioritäten: Empathie und Wertschätzung wurden viel wichtiger. Wir nennen das auch Human-2-Human Marketing.
Aber jetzt fehlen die Vertreter:innen?
Das ist richtig. Bei der Produkteinführung liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf den Pharmavertreter:innen, sondern auf den Kund:innen, den Ärzt:innen. Denn sie wissen, was ihre Patient:innen wollen und brauchen und wie sie dorthin kommen, wo sie sein müssen. Wir als Agentur sind nur dazu da, dies zu ergänzen und ein Katalysator zu sein. Wir bauen also die Kommunikation um die Ärzt:innen herum auf. Die Plattform und die Daten sind die Grund-lage für die Automatisierung und Personalisierung. Wenn wir das mit einem Orchester vergleichen, dann ist die Plattform der Dirigent, der nicht die Noten liest, sondern die Daten, und er führt alle Musiker richtig zusammen. Die Ärzt:innen sitzen im Auditorium und genießen die Musik, und wenn sie informiert und mit guter Laune aus dem Konzert kommen, hilft das den Patient:innen und fördert die Akzeptanz des Medikaments. Für ein Pharmaunternehmen bedeutet diese dienstleistungsorientierte Logik manchmal wirklich ein Umdenken!
Welchen zusätzlichen Nutzen erhoffen Sie sich?
Wir wollen den Menschen nicht vorschreiben (oder vorschreien!), was sie brauchen. Wir wollen herausfinden, ob unser Produkt das Beste für ihre Bedürfnisse und Herausforderungen ist. Wir wollen uns als Problemlöser etablieren, nicht als Problemprofiteur. So banal das auch klingt, in der Praxis ist das für viele neu. Vor allem in dieser Konsequenz. So können wir viel bedürfnisorientierter arbeiten. So kann neues Vertrauen und Loyalität entstehen, basierend auf einer authentischen Haltung und als Gegenleistung für unseren einfühlsamen, menschenzentrierten Ansatz im Marketing.
Bedeutet dieser Ansatz das Ende von Paid?
Wir sind dabei, unsere Denkweise zu ändern. Klassisches Paid Media, für Aufmerksamkeit zu bezahlen, anstatt sie aufzubauen, wird in einigen Bereichen ersetzt. Ich nenne es den Red-Bull-Stil, Inhalte zu schaffen, die informativ, wertvoll, unterhaltsam und genau richtig sind. Einerseits gehen wir auf Plattformen, auf denen sich die Ärzte aufhalten, andererseits schaffen wir die Plattformen, auf die sie gerne gehen.
Welche Rolle spielt dann das Storytelling?
Natürlich wollen wir den Menschen, hier Ärzt:innen und Pflegepersonal, zeigen, welche Vorteile die neue Medizin hat, welche Möglichkeiten sie eröffnet. Dabei setzen wir weiterhin auf Storytelling. Aber wir sind hier im Gesundheitsbereich limitiert und – wir haben gerade von Konsistenz gesprochen – in diesem Fall richten wir jetzt alle Materialien strikt an den Bedürfnissen der Menschen aus. Der wichtigste Nutzen für die Menschen wird sein, dass sie Informationen über das Produkt bekommen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind, und die Ärzt:innen können viel genauer verschreiben. Das ist mehr wert als ein Foto von einem glücklichen Rentnerpaar am Strand. Sie wissen, was ich meine (lacht). Aber natürlich werden wir auch darauf nicht ganz verzichten, wir brauchen weiterhin außerordentliche Kreativität und Erlebnisse, die die Menschen emotional bewegen.
Letzte Frage: Wie kamen Sie zu diesem neuen Ansatz?
Hackathons sind unserer Meinung nach der beste Weg, um komplexe Antworten auf die großen Veränderungen in Kommunikation und Marketing zu finden. Wenn wir Tech-Unternehmen wie Microsoft, Agenturen, Ärzt:innen, Patient:innen, Pflegepersonal, aber auch Regierungen, Gesundheitsbehörden, Influencer:innen oder beispielsweise die WHO mit unseren Kunden:innen zusammenbringen, entstehen aus den vielen Erkenntnissen die Lösungen und die Dynamik, die Kommunikation heute braucht, um relevant zu sein. Wir plädieren daher für immer mehr Hackathons und Open-Innovation-Strategien anstelle von Pitches und klassischer Marketingplanung, denn so lässt sich auch leichter herausfinden, wer für eine neue Aufgabe in welcher Kombination am besten zusammenpasst.
Herr Muller, vielen Dank für das Gespräch. <<