Intelligente Kliniken

29.01.2019 17:05
Der „nächste große Schritt in der Revolution der Gesundheitsversorgung“ werde die Künstliche Intelligenz (KI) sein, schreibt Joachim M. Schmitt, Geschäftsführer des Bundesverbands Medizintechnologie, im Editorial zu diesem MedTech-Special (siehe Seite 25). Wie KI (oder AI für Artificial Intelligence) im Krankenhaus eingesetzt werden kann, zeigen zwei aktuelle Beispiele: Das mit einer Kommandozentrale in der Flugsicherung vergleichbare „Command Center“ von GE Healthcare nutzt künstliche Intelligenz für den Echtzeit-Überblick über alle relevanten Prozesse und Parameter. Siemens Healthineers hat auf dem Kongress der Radiologischen Gesellschaft Nordamerikas (RSNA 2018) in Chicago mit dem „AI-Pathway Companion“ und dem „AI-Rad Companion Chest CT“ zwei auf künstlicher Intelligenz basierende Systeme präsentiert.

>> Angesichts steigender Patientenzahlen sind Kliniken heute mehr denn je gefordert, Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz ihres Betriebes zu finden und gleichzeitig ihre hohe Versorgungsqualität aufrechtzuerhalten. Dieser Spagat ist auch in Deutschland spürbar: Mehr als 40 Prozent aller öffentlichen Kliniken in Deutschland arbeiten laut der Roland Berger Krankenhausstudie nicht profitabel, Tendenz steigend. Vor diesem Hintergrund wurde jetzt ein wichtiges Projekt in Großbritannien gestartet: Hier hat GE Healthcare gemeinsam mit dem Bradford Teaching Hospitals NHS Foundation Trust mit der Errichtung eines Command Center in der Bradford Royal Infirmary (BRI) begonnen, das im Frühjahr 2019 eröffnet werden soll.

Als bisher erstes seiner Art in Europa wird dieses Command Center, das einer Kommandozentrale in der Flugsicherung ähnelt, die Art und Weise, wie Versorgung durchgeführt und organisiert wird, verändern. Durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz wird das Command Center einen detaillierten Echtzeit-Überblick über das 800-Betten-Krankenhaus bieten und den Mitarbeitern dabei helfen, schnelle und fundierte Entscheidungen zu treffen, wie sie die Patientenversorgung optimal steuern können.

Auf der „Wall of Analytics“ laufen kontinuierlich Streams von Echtzeitdaten der verschiedenen Systeme des Krankenhauses zusammen. Durch ausgereifte Algorithmen können Versorgungsengpässe von den Mitarbeitern prognostiziert werden, die ausgegebenen Empfehlungen ermöglichen eine effizientere Patientenversorgung und eine bessere Zuteilung der Ressourcen. Die Daten werden sowohl auf Bildschirmen im Command Center als auch auf Tablets und mobilen Geräten angezeigt, sodass die Ärzteteams in der gesamten Klinik rund um die Uhr durch das System unterstützt werden.

Die Bettenkapazität der BRI ist regelmäßig zu mehr als 96 Prozent ausgelastet, und in den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der in der Notaufnahme behandelten Patienten um mehr als 40 Prozent gestiegen. Ziel ist, mithilfe des Command Center unnötige Klinikaufenthalte nach dem medizinisch sinnvollen Entlassungszeitpunkt zu reduzieren und den Anteil von Patienten, die innerhalb von vier Stunden ankommen, aufgenommen und aus der Notaufnahme verlegt oder entlassen werden, zu erhöhen. Zudem soll gewährleistet werden, dass die Patienten möglichst immer in der geeigneten Abteilung behandelt werden. So entspricht das Programm des Command Center dem Anspruch, Klinik-aufenthalte zu verkürzen sowie den Bedarf an zusätzlichen Stationen und Betten – insbesondere zu Spitzenzeiten im Winter – und den Ausfall von Operationen, die keine Notfälle sind, zu reduzieren.

„Die Nachfrage nach Dienstleistungen an den Bradford Teaching Hospitals steigt mit jedem Jahr weiter an“, so Professor Clive Kay, Geschäftsführer des Bradford Teaching Hospitals NHS Foundation Trust. „Das Command Center wird uns ermöglichen, unsere Ressourcen zu optimieren und die Effizienz, mit der wir die Patienten innerhalb der Klinik für ihre Behandlung bewegen und erfolgreich entlassen, verbessern. Rund 350 bis 400 Patienten durchlaufen täglich unsere Notaufnahme. Den Druck auf unsere 6.000 Mitarbeiter zu reduzieren, bedeutet, dass diese mehr Zeit für die tatsächliche Versorgung von Patienten haben, und weniger mit der Organisation dieser Versorgung beschäftigt sind.“

„Kliniken suchen heute verstärkt nach Möglichkeiten zur Steigerung der Effizienz ihres Betriebes, um auch bei steigenden Patientenzahlen ihre hohe Versorgungsqualität beibehalten zu können. Command Centers helfen bei der Organisation der Versorgung in der Einrichtung und bringen Konsistenz in die Abläufe, indem sie Tätigkeiten Prioritäten zuordnen, Verschwendung verhindern und bereits heute zukünftige Herausforderungen vorhersagen“, sagt Mark Ebbens, European Command Center Lead bei GE Healthcare.

In Nordamerika haben bereits mehrere Krankenhäuser das Konzept der „Command Centers“ erfolgreich eingeführt. Seit der Einführung des Command Centers am Johns Hopkins Hospital in Baltimore würden Patienten aus anderen Krankenhäusern 60 Prozent schneller verlegt, und die Wartezeiten in der Notaufnahme und auf ein Stationsbett nach einer OP seien um 25 Prozent bzw. 70 Prozent gesunken. „GE Healthcare verfolgt den Ansatz einer ‚Precision Health‘. Es ist eine große Ehre für uns, das NHS Bradford Team bei der bestmöglichen Effizienz in der Patientenversorgung unterstützen zu können“, erklärt GE Healthcare CEO Jeff Terry, zuständig für den Bereich Command Centers.

„Im Vergleich zu anderen Ländern hat Deutschland sehr hohe Kosten im stationären Bereich“, so Michael Stockhammer, General Manager DACH bei GE Healthcare. „Das Command Center hilft dabei, wesentliche Parameter transparent zu machen und frühzeitig auf Engpässe und Veränderungen reagieren zu können. Wir sehen hier sowohl für private Klinikketten als auch öffentliche Häuser ein enormes Effizienz-Potenzial. Durch das Command Center lassen sich die relevanten Parameter eines Klinikbetriebes von einem zentralen Punkt aus überwachen und anhand von Real-Time-Daten sowie durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz Prognosen hinsichtlich personeller Engpässe oder Überkapazitäten treffen.“

Entscheidungen im klinischen Behandlungspfad

Andere Beispiele für den Einsatz künstlicher Intelligenz im Krankenhaus sind „AI-Rad Companion“ und „AI-Pathway Companion“, die Siemens Healthineers auf dem Kongress der Radiologischen Gesellschaft Nordamerikas (RSNA 2018) präsentiert hat. „Damit beweisen wir erneut unseren Anspruch, als ein führendes Unternehmen bei Digitalisierung und künstlicher Intelligenz Gesundheitsversorger bei der Transformation zur wertebasierten Gesundheitsversorgung zu unterstützen“, sagt Yan Beynon, Leiter Digital Services bei Siemens Healthineers.

Die ständig steigende Anzahl medizinischer Patientendaten könnte eigentlich zu personalisierter und effizienter Diagnostik und Therapie führen. Allerdings befinden sich Gesundheitsdaten, die zum Beispiel aus klinischen Untersuchungen, Laborbefunden, Genetik und Bildgebung resultieren, noch immer in isolierten Silos. Diese ungenügende Datenintegration führt u.a. zu Verschwendung und Fehlern im klinischen Ablauf sowie zu Überversorgung. Der „AI-Pathway Companion“ ist eine Lösung, die auf Basis von Datenintegration und KI-Technologien zur Erkennung von Mustern und Regularitäten in Daten arbeitet. Sie aggregiert zu jedem Patientenfall die Historie, die Ergebnisse aus Bildgebung, Labor, Pathologie und Genetik sowie aus klinischen Studien und wertet die Daten aus. Auf dieser Basis liefert das System unter Berücksichtigung der Behandlungsrichtlinien den Status des Patienten im Behandlungspfad und schlägt die nächsten Schritte vor. Die intuitive Benutzeroberfläche ermöglicht es Ärzten, die Ergebnisse mit ihren Patienten zu diskutieren und gemeinsam Entscheidungen über das weitere Vorgehen zu treffen.

Der „AI-Pathway Companion“ kann nach Ansicht von Siemens Healthineers die Rolle der Bildgebung im Behandlungspfad und die Rolle des Radiologen als Partner der Kliniker in der integrierten Entscheidungsfindung stärken. Denn um die Präzisionsmedizin in Form präziser Diagnosen und optimaler Therapieauswahl zu ermöglichen, spielen bildgebende Verfahren oft eine Schlüsselrolle bei klinischen Entscheidungen. Das System bindet für Entscheidungen über das Patientenmanagement die Expertise unterschiedlicher Fachdisziplinen ein und sorgt dafür, dass der Beitrag der jeweiligen diagnostischen Untersuchung im gesamten Behandlungspfad erkennbar wird. Durch die Transparenz via Key Performance Indicators (KPIs) können Radiologen den Wert aufzeigen, den die Bildgebung zu Patientenmanagement und klinischen Behandlungspfaden beisteuert – wie schnellere Entscheidungsfindung für Diagnosen und Therapie, die konsequente Befolgung des Behandlungspfades und der bleibende Behandlungserfolg.

Der „AI-Rad Companion Chest CT“, eine auf KI basierende Software für die Computertomografie (CT), ist dagegen ein intelligenter Software-Assistent für die Radiologie, der Organe und eventuell krankheitsrelevante Veränderungen erkennen kann. Die Software kann auf CT-Aufnahmen des Thorax Strukturen voneinander unterscheiden, einzeln herausstellen und etwaige Auffälligkeiten kennzeichnen und messen. Dies gilt für Organe wie Herz oder Lunge, die Aorta sowie Wirbelkörper.

„AI-Rad Companion Chest CT“ ist die erste Anwendung auf der neuen Plattform „AI-Rad Companion“ und soll Radiologen helfen, die Interpretation von CT-Bildern schneller und präziser durchzuführen sowie die Dokumentation der Befunde zu beschleunigen. „Mit dem ‚AI-Rad Companion Chest CT‘ steht ein Tool zur Verfügung, das tatsächlich Produktivität und Qualität in der radiologischen Diagnostik gleichzeitig erhöhen kann“, sagt André Hartung, Leiter Computed Tomography bei Siemens Healthineers. „Durch den intelligenten Assistenten erhalten Ärzte auch Hinweise auf möglicherweise krankheitsrelevante Veränderungen, die gar nicht im Fokus der ursprünglichen Untersuchung standen und somit nicht erkannt worden wären. Damit können sie – natürlich unter zusätzlicher Beachtung der klinischen Symptome des Patienten – zügiger zu einer präziseren und umfangreicheren Diagnose kommen.“

„Künstliche Intelligenz wird den Radiologen nicht ersetzen, sondern ihm Routinetätigkeiten abnehmen, um Effizienz und Qualität in der radiologischen Diagnostik zu erhöhen“, sagt Yan Benyon. Was wichtig ist, denn in vielen Ländern steigt die Anzahl radiologischer Untersuchungen stetig, die Expertenzahl wächst jedoch nicht im selben Maße. Es sei keine Seltenheit, dass ein Radiologe bis zu 100 Untersuchungen am Tag durchführen müsse, stellt Siemens Healthineers fest, und das bedeute, dass ein Radiologe im Durchschnitt alle drei bis vier Sekunden ein klinisches Bild interpretiere – und das täglich acht Stunden und mehr.

Dabei stellt die radiologische Befundung des Brustkorbs als Multiorganbereich auch deshalb eine Herausforderung dar, weil viele unterschiedliche Informationen auf den Bildern vorhanden sind. Der Radiologe begutachtet die Bilder vor allem im Hinblick auf die vorliegende primäre Indikation, wegen der die CT-Aufnahme veranlasst wurde. Die Algorithmen des „AI-Rad Companion Chest CT“ berücksichtigen hingegen alle Bereiche des Brustkorbs gleichermaßen und können Normabweichungen auch in Regionen kennzeichnen, die der Arzt möglicherweise nicht so intensiv beachten würde. <<

Ausgabe 01 / 2019

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