„Wir brauchen flexiblere Strukturen“

02.02.2021 20:03
Das mittelständische, international tätige Beratungsunternehmen Santiago Advisors ist auf Pharma-, Medizintechnik und Life-Science-Industrie spezialisiert und berät diese vor allem zu Strategie- und Organisationsprojekten, insbesondere in Hinblick auf neue Geschäftsmodelle und Digitalisierung. Vor dem Hintergrund der Entwicklung, dass medizintechnische Devices für die Pharmaindustrie eine immer größere Bedeutung gewinnen, fordert der Gründer und Geschäftsführende Gesellschafter Dr. Juan Rigall ein Umdenken der Arzneimittelhersteller.

>> Herr Dr. Rigall, was sind die Gründe dafür, dass medizintechnische Anwendungen in der Pharmaindustrie eine immer größere Rolle spielen?
Es gibt drei wesentliche Gründe. Zum einen haben wir immer mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, aus denen sich neue Therapieformen ergeben, die unmittelbar mit dem Einsatz von medizintechnischen Geräten zuammenhängen. Ein Beispiel dafür ist die langjährige Grundlagenforschung über die Funktionsweise des Vagusnervs und seiner Bedeutung für die Überwindung von chronisch inflammatorischen Krankheiten. Positive Forschungsergebnisse zur Elektrostimulation des Vagusnervs führen zur Entwicklung spezialisierter Devices, die zu besseren Therapieerfolgen als herkömmliche Wirkstoffe führen.
Der zweite Grund ist, dass Analytik und Therapie online in Echtzeit ineinander greifen. Wir sehen da eine Symbiose, zum Beispiel im Bereich der Diabetes-Therapien, wo der Patient ganz neue Möglichkeiten hat, selbst das Blutzucker-Monitoring durchzuführen und einen viel besseren Überblick zu gewinnen, und gleichzeitig auf neue Art Verbindungen zu seinem Arzt aufbauen kann. Das genauere Monitoring führt dazu, dass das Insulin viel feiner dosiert werden kann – was ohne ein medizintechnisches Device nicht ginge.
Und dann gibt es noch einen dritten Grund, der das potenziert: den Bedeutungszuwachs von Daten. Auch um Körperdaten zu erfassen, benötigt man medizintechnische Devices. Nehmen Sie beispielsweise bildgebende Verfahren in der Radiologie, wo der Einsatz von Kontrastmitteln, aber auch von therapeutischen Arzneimitteln sehr stark über die Verarbeitung von Daten bestimmt wird. Ein anderes Beispiel ist die Onkologie, in der Expertensysteme aufgebaut werden, um noch besser therapieren zu können. Man sammelt Daten und wertet sie aus und kann eine Diagnose so mit einer Vielzahl anderer vergleichen.
Wenn wir das Thema Arzneimittelherstellung nicht im klassischen Sinne betrachten, denn davon kann meiner Meinung nach heute keine Rede mehr sein, sondern von der Entwicklung von Therapien sprechen, dann gelten diese drei Faktoren.

Wenn Sie von medizintechnischen Devices sprechen, meinen Sie dann auch noch physische Medizinprodukte oder geht es vor allem um digitale Anwendungen, die als Medizinprodukte zertifiziert sind?
Wir sind in einer Situation, in der wir immer stärker in die digitalen Anwendungen migrieren. Aber natürlich gibt es eine ganze Reihe von Anwendungen, bei denen wir auch noch einen physischen Kontakt und ein Gerät benötigen. Die digitalen Anwendungen und die Kombination mit medizintechnischen Geräten nimmt zu, was wiederum an den großen Vorteilen in der Kommunikation und in der Datenauswertung liegt. Man hat die Möglichkeit, sehr schnell auf Veränderungen der Körperdaten zu reagieren. Gleichzeitig ist das Sammeln von Daten aber auch als solches ein wichtiges Thema für die Hersteller: Sie stehen vor der Frage, wie sie die gesammelten Daten nutzen sollen, um darauf bei zukünftigen Neuentwicklungen aufbauen zu können.

Betrifft dieses Thema denn bestimmte Indikationsbereiche oder ist dieser Trend flächendeckend festzustellen?
Wir sehen zwar Schwerpunkte, wo die eingangs genannten drei Kriterien besonders zum Tragen kommen und man heute schon direkt den Nutzen feststellen kann. Insgesamt ist diese Entwicklung aber flächendeckend. Die Industrie sucht nach Anwendungsfeldern, in denen eine Kombination von Device und Arzneimittel, entweder in Richtung Analytik oder in Richtung direkter Einwirkung auf die Therapie, einen Vorteil bringen kann.

Ist diese Entwicklung in der Pharmaindustrie schon komplett erkannt worden? Oder sind Sie als Berater gefragt, diesen Trend bewusst zu machen?
In den Prozess der Bewusstseinswerdung müssen wir nicht eingreifen – die Trends sind bekannt. Die Fragen, die wir von den Unternehmensverantwortlichen und den Strategieabteilungen gestellt bekommen, beziehen sich darauf, wie man mit diesen Entwicklungen am besten umgeht und wie man den damit verbundenen Wandel bewerkstelligen kann. Denn wir dürfen ja nicht vergessen, dass die Unternehmen daneben noch eine große Bandbreite von technologischen Entwicklungen haben, die sie ebenfalls internalisieren müssen. Wenn man früher ein Team aus Pharmazeuten, Chemikern, Biologen und Biotechnologen hatte, kommen heute beispielsweise Themen wie die Gentechnik und Immuntherapien sowie die ganzen datengetriebenen Entwicklungen hinzu. Das führt dazu, dass das meistgesuchte Profil vielleicht gar kein Phamazeut mehr ist, sondern ein Data-Analyst oder ein Software-Ingenieur für die Programmierung von Devices.
Die Erkenntnis ist in der Industrie vorhanden, aber die Vielfalt an Trends, Technologien und Therapieansätzen, die man jetzt beherrschen muss, ist eine Herausforderung, die wir so bisher nicht hatten.

Passt der aktuelle regulatorische Rahmen zu diesen neuen Entwicklungen?
Die Frage, die sich allen Unternehmen stellt, wenn sie in neue Bereiche investieren, ist, ob sie das am Ende auch vergütet bekommen. Wenn ich für eine Atemwegstherapie einen neuartigen Inhalator entwickele, muss ich im Preisbildungsverfahren den Medical Need nachweisen. Der Benefit meines Produktes muss so groß sein, dass er sich auch entsprechend auszahlt. Wir wissen aus der Vergangenheit, dass nicht jede Weiterentwicklung oder Innovation den wirtschaftlichen Nutzen für den Arzneimittelhersteller gebracht hat, den sie vielleicht bringen sollte. Insgesamt sind wir immer noch zu sehr in der Produktdenke verhaftet. Wir tun uns, auch was den regulatorischen Rahmen betrifft, immer noch schwer, die Gesamtlösung zu vergüten – und das ist nicht innovationsfördernd. Durch die neue Gesetzgebung auch im digitalen Umfeld wird das zwar nun erleichtert, geht aber noch nicht weit genug. Der regulatorische Rahmen muss meiner Meinung nach noch weiterentwickelt werden.

Gibt es denn eine Art „Patentrezept“, wie die Pharmaindustrie mit der wachsenden Bedeutung von medizintechnischen Devices umgehen sollte? Ist es ratsam, selbst das entsprechende Know-how aufzubauen? Oder sollte man sich lieber Partner in der MedTech-Branche suchen?
Wenn Sie mit Patentrezept „one size fits all“ meinen, wäre das sicherlich der falsche Weg. Um erfolgreich zu sein, braucht man ein auf das individuelle pharmazeutische Unternehmen zugeschnittene Konzept, das den Kernkompetenzen dieses Unternehmens immer noch entspricht. Sonst wird man bei der Umsetzung keinen Erfolg haben.

Was bedeutet das konkret?
Wenn wir pharmazeutische Forschung in Zukunft viel interdisziplinärer sehen müssen, es also nicht mehr nur um die Entwicklung von Wirkstoffen geht, sondern eben auch um medizintechnische Geräte, um die Analyse von Daten und um ganz neue Therapieformen, dann bedeutet das auch, dass man vielen neuen Technologien aufgeschlossen gegenüberstehen muss. Jedes Unternehmen muss seinen eigenen Weg finden, um die eigene Rolle für die Zukunft zu definieren. Wenn Sie so wollen, besteht das „Patentrezept“ darin, sich den für das eigene Unternehmen erfolgversprechendsten Wegen zu öffnen. Angesichts von ganz neuen Wissenschaftsbereichen, aber auch ganz neuen Geschäftsmodellen, die ich alle nicht kenne, muss ich zunächst die Frage beantworten, wie ich so flexibel werde, dass ich sie erfolgreich integrieren kann. Man muss also eine Kernkompetenz entwickeln, die eine ganz andere, eine ganz neue ist. Ich muss nicht mehr der beste Pharmazeut, sondern der beste und flexibelste Organisationsexperte sein, um Modelle der Zusammenarbeit zu finden, die die neuen Entwicklungen bestmöglich integrieren.

Die Pharmaindustrie muss also komplett umdenken?
Egal ob ich als Unternehmen Know-how in Sachen Data oder in Sachen Medizintechnik integrieren will – es erfordert in jedem Fall viel flexiblere Strukturen. Ich muss einfach offen für unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit sein, denn ich weiß heute nicht – und das bleibt eine Konstante in der Forschung – was am Ende zum Erfolg führen wird. Ich weiß nur, es gibt viele Ansätze, und ich muss eben auf die richtigen Pferde setzen. Man braucht also eine gute Strategie, und eine Kernkompetenz muss das Thema organisatorische Flexibilität sein – mit allem, was dazu gehört: Ich muss mich auf kleinste bis größere, mittelständische, US-amerikanische wie chinesische Unternehmen einstellen, um die Flexibilität zu haben, das Beste daraus machen zu können.
Man könnte das etwas provokant mit der Automobilindustrie vergleichen. Auch die steht vor enormen technologischen Herausforderungen, während die angestammte Technologie des Verbrennungsmotors in Misskredit zu geraten scheint. Es kommen plötzlich ganz neue Ansätze wie das autonome Fahren oder die E-Mobilität, und die müssen Unternehmen wie Daimler oder VW erst einmal integrieren. In einer ähnlichen Situation sehen wir – vielleicht noch nicht heute, aber morgen – die Pharmaindustrie.

Denken Sie, dass sich im Healthcare-Bereich langfristig Unternehmen herausbilden werden, die alles unter einem Dach vereinen – die pharmazeutische Expertise, das medizintechnische Know-how und die Fähigkeit, Daten sinnvoll zu sammeln und auszuwerten?
Das sehe ich als Vision. Wenn Forschung und Entwicklung der Zukunft eine Summe aus Initiativen und Aktivitäten ist, die am Ende des Tages zu Präventions-, Diagnose- oder Therapieansätzen führt – egal ob auf Basis von datengetriebenen oder medizintechnischen Ansätzen – entwickeln sich viele Unternehmen schon in diese Richtung. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass so, wie die Pharmaindustrie heute strukturiert ist, viele Assets noch gebunden sind in klassischen Produktionstechnologien. Das heißt, wir sehen im Moment am „lebenden Objekt“ die Veränderung einer Branchenstruktur – zunächst in den Ansätzen und im Portfolio von Aktivitäten, aber langfristig auch im Aufbau der Unternehmen selbst.
Denn wenn wir betrachten, wer aus anderen Branchen in diesen Bereich hineinstößt, wie beispielsweise Google, dann sind das Unternehmen, die eigentlich aus völlig anderen Kompetenzen kommen und nun plötzlich ganz wichtige Meilensteine besetzen und in Startups im Gesundheitsbereich investieren. Es könnte also durchaus sein, dass ein Health-Unternehmen der Zukunft aus einem ganz anderen „Stall“ kommt und plötzlich einen ganz wesentlichen Teil des Marktes beherrscht oder zumindest zu einem ganz wichtigen Player wird.

Wenn wir beim Beispiel Google bleiben: Haben Pharmaunternehmen überhaupt eine Chance, den Vorsprung beim Thema Daten aufzuholen?
Wir sehen einen Wettbewerb um den richtigen Ansatz. Denn bei den großen Technologieunternehmen kommt noch eine weitere Kernkompetenz hinzu: Wenn sie sich deren Historie ansehen, sind das die Weltmeister des Zukaufs und der Integration. Viele der Googletechnologien kommen ja nicht aus dem Ursprung des Unternehmens, sondern wurden zugekauft. Das bedeutet, die organisatorische Flexibilität und die Integrationsfähigkeit ist dort längst vorhanden. Wer am Ende die Nase vorne haben wird, kann ich Ihnen nicht sagen, aber wir haben es in Zukunft definitiv mit einem sehr starken Wettbewerber zu tun.
Umgekehrt haben aber die Pharmaunternehmen den Vorteil, dass sie durch die Vielfalt der Forschungsansätze einen größeren Überblick haben, was mögliche Thearapie- und Lösungsansätze sind, weil sie ein Spektrum an Technologien abdecken können, die in dieser Breite niemand anderes traditionell abbilden kann. Aber diese Breite müsste eben auch zum Erfolg führen.
Die Arzneimittelhersteller müssen sich auf ein ganz neues Anforderungsprofil vorbereiten. Wir haben uns jetzt einen Trend herausgepickt, aber es stehen ja noch ganz andere Herausforderungen an, die parallel bearbeitet werden müssen. Das ist aber auch eine Chance, für den Standort Deutschland. Denn wir haben namhafte Pharmaunternehmen, wir haben traditionell eine starke Medizintechnik-Industrie, und wir haben einen sehr innovativen Mittelstand. Was wir nicht haben, ist die Intensität an Start-ups und die Kreativität des Trial & Errors, da sind die Märkte in den USA, aber auch teilweise in China sicherlich weiter. Aber insgesamt sind wir gar nicht schlecht aufgestellt.

Herr Dr. Rigall, vielen Dank für das Gespräch. <<

Ausgabe 02 / 2021