"Mehrwert nur ansatzweise realisiert"

08.03.2023 00:15
Nach verschiedenen Funktionen, u.a. in der Verwaltung der Freien und Hansestadt Hamburg, war Peter Schaar von 2003 bis 2013 Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Heute leitet er die Europäische Akademie für Datenschutz und Informationsfreiheit (EAID) in Berlin, ist daneben der Vorsitzende der Schlichtungsstelle der Gematik und Mit-Herausgeber der „European Data Protection Law Review“ (EDPL). Schaar ist Autor mehrerer Sachbücher, kürzlich erschienen ist das neueste mit dem Titel „Diagnose Digital-Desaster – Ist das Gesundheitswesen noch zu retten?“.

Herr Schaar, ich beschäftige mich seit rund 20 Jahren beruflich mit dem Gesundheitswesen und den größten Teil davon sind Dinge wie die elektronische Gesundheitskarte, die elektronische Patientenakte und das E-Rezept bereits Thema. Man könnte fast den Eindruck haben, die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist wie ein Dauerlauf, bei dem man zwar das Ziel in der Ferne sieht, diesem aber im Grunde nicht, oder allenfalls sehr langsam, näher kommt. Warum tut sich Deutschland so schwer mit der Umsetzung digitaler Lösungen im Gesundheitswesen?
Ich sehe hier mehrere Gründe. Sieht man einmal von vollmundigen Ankündigungen ab, hat die Digitalisierung in Konkurrenz mit anderen Themen in der Politik einen verhältnismäßig geringen Stellenwert. Dies gilt überraschenderweise auch für weite Teile der Wirtschaft, speziell auch für Unternehmen im Gesundheitswesen. Die schleppende digitale Transformation rückt vielfach erst in Krisensituationen ins Blickfeld, wie es etwa während der Corona-Pandemie der Fall war. Plötzlich wurde darüber diskutiert, warum die Gesundheitsämter überwiegend noch analog arbeiteten und ihre Daten per Telefax weitergaben. Hier kamen mehrere Faktoren zusammen: die langjährige Vernachlässigung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, mangelnde personelle und finanzielle Ausstattung und unzureichende Koordination im Rahmen unseres föderalen Systems.
Das ambitionierteste Digitalisierungsprojekt im deutschen Gesundheitswesen, der Aufbau der Telematik-Infrastruktur, kommt vor allem deshalb nur schleppend voran, weil es nicht gelungen ist, die Interessengegensätze der verschiedenen Akteure der Selbstverwaltung des Gesundheitswesens vom Nutzen der Digitalisierung zu überzeugen. Dies gilt insbesondere für weite Teile der Ärzteschaft, die bis heute kaum Vorteile spüren. Man hat sich hier viel zu sehr auf den Aufbau einer technischen Infrastruktur konzentriert und dabei den medizinischen Nutzen zu wenig im Blick gehabt. So ist das E-Rezept, das die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt für 2006 angekündigt hatte, bis heute nicht flächendeckend im Einsatz.

Häufig wird das Thema Datenschutz als ein wesentliches Hemmnis angeführt. Sehen Sie das auch so, oder gibt es Ihrer Meinung nach andere wichtige Aspekte, an denen eine schnellere Digitalisierung bisher gescheitert ist?
Jüngste Umfragen belegen erneut, dass die allermeisten Menschen mit Verarbeitung der Daten über ihren Gesundheitszustand nur einverstanden sind, wenn die Vertraulichkeit gewährleistet ist. Lösungen, die den Datenschutz vernachlässigen, wären deshalb sicherlich keine gute Idee. Wenn man sich die Digitalisierungsprojekte aus der Nähe anschaut, zeigt sich, dass zu strenge Datenschutzregelungen in den wenigsten Fällen für deren Scheitern oder schleppendes Vorankommen verantwortlich waren. Ein gutes Beispiel dafür sind das bereits erwähnte E-Rezept und die elektronische Patientenakte. Als Voraussetzung für deren Nutzung war vorgesehen, dass die Versicherten dafür vorgesehenen Apps mit einer NFC-fähigen Gesundheitskarte und einer PIN freischalten. Der dafür erforderliche Austausch der alten gegen eine neue Version der eGK verzögerte sich auf Grund des Chipmangels. Zudem bekommen die Versicherten mit der neuen eGK nicht automatisch die dazugehörige PIN, sondern sie müssen sie in einem aufwendigen Verfahren von den Krankenkassen ausstellen lassen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass weniger als ein Prozent der Versicherten eine ePA haben. Das hätte man anders machen können.

Wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens geht, wird sehr häufig Estland als leuchtendes Beispiel angeführt. Könnte sich Deutschland tatsächlich dort – oder auch in anderen Ländern wie zum Beispiel den skandinavischen – etwas abschauen und von den dortigen Erfahrungen profitieren? Oder sind die strukturellen Unterschiede zu groß, um diese Systeme als „Blaupause“ heranzuziehen? Gibt es vielleicht zumindest einige Aspekte bzw. Lösungen in anderen Systemen, von denen sich Deutschland inspirieren lassen sollte?
Selbstverständlich kann Deutschland von anderen Ländern lernen, die bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens schneller vorangekommen sind, etwa beim E-Rezept und bei der Vernetzung der Gesundheitsdaten. Aber als „Blaupause“ eignen sich die genannten Beispiele nicht. Estland ist ein kleines Land, das nach dem Ausscheiden aus der Sowjetunion sein Gesundheitswesen und seine Verwaltung völlig neu aufgebaut hat. In den skandinavischen Ländern ist das Gesundheitswesen weitgehend staatlich organisiert, der Föderalismus ist weniger ausgeprägt als bei uns und von Selbstverwaltung kann dort keine Rede sein.

Liegt das langsame Vorankommen der Digitalisierung in Deutschland tatsächlich nur an der langsamen Entwicklung und Umsetzung von Lösungen? Welche Möglichkeiten gibt es aus Ihrer Sicht, die Entwicklung zu beschleunigen?
Dort, wo föderale Strukturen sich zu einem Hemmschuh für eine gute Gesundheitsversorgung und für deren Digitalisierung erwiesen haben, brauchen wir ein höheres Maß an Gemeinsamkeit. Es ist zum Beispiel nicht einzusehen, dass die Landeskrankenhausgesetze für den Einsatz von Informationstechnik und für die Forschung mit Gesundheitsdaten sehr unterschiedliche Vorgaben enthalten. Auch die technischen Verfahren – etwa zur Authentifizierung und zum Austausch von Gesundheitsdaten müssen stärker vereinheitlicht werden.
Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die im Grundgesetz festgelegten Zuständigkeiten revidiert werden – die Länder könnten dies auch mittels Staatsverträgen erreichen, wie wir sie etwa im Medienbereich haben. Wenn die Bereitschaft dazu fehlt, müsste dies aber womöglich ein Gegenstand einer neuen Föderalismusreform werden. Zudem sollte der Fokus in Zukunft weniger auf Hardware – etwa die zum Anschluss an die Telematikinfrastruktur erforderlichen Konnektoren – gelegt werden, sondern auf international anschlussfähige Standards und einheitliche Identifizierungsverfahren, die sich nicht auf das Gesundheitswesen beschränken, sondern auch in anderen Bereichen verwendet werden können. Dass dies – auch ohne Einschnitte beim Datenschutz – gelingen kann, zeigt unser Nachbar Österreich.

Ist das Hauptproblem tatsächlich nur die Umsetzung, oder muss vielleicht auch die Kommunikation besser werden, um die Akzeptanz bei den verschiedenen Akteuren zu erhöhen? Ist der Ärzte- und Apothekerschaft, aber auch den Bürgerinnen und Bürgern aktuell überhaupt klar, wohin der Weg genau gehen soll und inwiefern sie von der Digitalisierung profitieren würden?
Das Problem sehe ich weniger bei einer mangelnden Aufklärung, sondern eher in der fehlenden Substanz. Es reicht nicht aus, immer wieder abstrakt für die Beschleunigung von Digitalprojekten zu werben. Entscheidend wäre die Aufklärung über die praktischen Vorteile, die sich für alle Beteiligten – Patientinnen und Patienten, Ärzteschaft, Krankenhäuser und Apotheken, Gesundheitswirtschaft – ergeben. Dass dies zu wenig geschieht, hat in allererster Linie aber damit zu tun, dass ein solcher Mehrwert bisher nur ansatzweise realisiert wurde.

Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte, um die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu beschleunigen? Oder um den Untertitel Ihres Buchs aufzugreifen: Ist das Gesundheitswesen überhaupt noch zu retten? Welche Schritte müssten primär und so schnell wie möglich eingeleitet werden?
Der Buchtitel soll natürlich aufrütteln. Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Ja, das deutsche Gesundheitswesen ist zu retten. Aber es bedarf erheblicher Anstrengungen aller Beteiligter, einschließlich der Bereitschaft der Politik, sich an föderale und sonstige Erbhöfe heranzuwagen. Wir müssen uns auch fragen, ob das Gesundheitswesen zu engmaschig gesetzlich reguliert ist. So sind die Bestimmungen des Sozialgesetzbuchs zur Digitalisierung des Gesundheitswesens in den letzten Jahren massiv erweitert worden, bis hin zu sehr konkreten Vorgaben zur Technik. Das macht es schwierig, hier neue technische Entwicklungen zu realisieren.

„Diagnose Digital-Desaster“ klingt nach einem Totalversagen. Oder gibt es auch Dinge im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens, die Ihrer Meinung nach schon gut funktionieren? Ich denke da beispielsweise an Register zu verschiedenen Erkrankungen, mit deren Hilfe die Patientenversorgung verbessert werden soll, oder auch die Digitalen Gesundheits-Anwendungen (DiGA), die zunehmend in der Versorgung ankommen. Wie beurteilen Sie diese Beispiele und gibt es vielleicht andere Positivbeispiele?
Klar, es gibt durchaus Lichtblicke. Die von Ihnen angesprochenen Bereiche gehören dazu. Ein weiteres Positivbeispiel sind die Bestimmungen zu den Versorgungsinnovationen im SGB V, die den Spielraum für neue Ansätze ausgeweitet haben. Damit ist es schon heute möglich, bestimmten Patientengruppen – etwa Patientinnen und Patienten, die an Diabetes leiden oder die mit Herzschrittmachern ausgestattet sind – maßgeschneiderte, digitale Angebote zu machen.
Ich fände es gut, wenn darüber hinaus mehr Möglichkeiten geschaffen würden, in geschützten „Versuchsräumen“ innovative Lösungen auszuprobieren und das, was sich bewährt, zügiger in die Regelversorgung zu überführen.

Herr Schaar, vielen Dank für das Gespräch.

Ausgabe 03 / 2023