"Wir sind ein Forschungs- und Entwicklungsunternehmen"
Herr Sugarman, bei den Stichworten digitale Therapien und DiGA hat man fast automatisch ein Startup vor Augen. Trifft das auf GAIA zu?
GAIA wurde 1997 gegründet – dann wäre Google auch ein Startup (lacht). Wir sind zwar mit aktuell 200 Mitarbeitern ein bisschen kleiner, aber wir haben bereits im Jahr 2001 mit „Doctor Beck“ unsere erste digitale Therapie auf den Markt gebracht. Unser Gründer, Dr. Mario Weiss, ist mit dem Anspruch angetreten, durch Digitalisierung wirksame Therapien verfügbar zu machen, und zwar für alle. Das ist auch heute noch unser Ziel.
Wie würden Sie GAIA charakterisieren?
Wenn man so will, sind wir eine Manufaktur, denn wir decken vom medizinischen Bereich über die digitale Entwicklung bis hin zum Thema Zulassung alles mit eigenen Mitarbeitenden ab. Von unserer Vorgehensweise her sind wir absolut vergleichbar mit einem Pharmaunternehmen: Wo gibt es einen Unmet Medical Need und verstehen wir die erforderliche Wirkungsweise? Können wir eine Therapie entwickeln und mithilfe von klinischen Studien ihre Wirksamkeit nachweisen? Können wir sie im Markt platzieren und dann auch Real World Evidence sammeln?
GAIA hat mittlerweile sieben digitale Therapien im DiGA-Verzeichnis. Entwickeln sie Therapien von vorneherein so, dass sie das Potenzial haben, als DiGA registriert zu werden?
Das tun wir schon deshalb nicht, weil wir international aufgestellt sind. Wir denken über den deutschen Markt hinaus, weshalb wir uns bei Forschung und Entwicklung nicht am hiesigen Zulassungsverfahren orientieren.
Primär geht es uns um wirksame Therapien, unsere Tätigkeit ist also purpose-getrieben. Wir schauen erst im zweiten Schritt, welches der beste Weg ist, unsere Therapien auf den Markt zu bringen. Am liebsten entwickeln wir eine Therapie und lizenzieren sie dann an ein Pharmaunternehmen. Aber wir haben auch die Fähigkeit, selbst die letzte Meile zu den Healthcare Professionals zu gehen und sie edukativ zu informieren, damit sie verstehen, wie sie eine bestimmte digitale Therapie einsetzen können. Mit Blick auf den deutschen Markt haben wir deshalb auch eine DiGA-Marketing- und -Vertriebsorganisation bei uns. Es kommt aber auch vor, dass Pharmafirmen auf uns zukommen. Beispielsweise hat uns das US-Unternehmen Orexo gefragt, ob wir nicht eine digitale Therapie zur Behandlung der Opioid-Abhängigkeit entwickeln könnten. In anderen Fällen arbeiten wir im Rahmen integrierter Versorgungsmodelle mit Krankenkassen zusammen. Es gibt also ganz viele Wege, unsere Produkte zu kommerzialisieren. Auf dem deutschen Markt ist einer davon die DiGA-Zulassung.
Haben Sie therapeutische Apps, die Sie bei den Patienten selbst vermarkten?
Da möchte ich zunächst klarstellen, dass der Begriff „App“ bei GAIA ein „No No Word“ ist. Mit „App“ assoziieren wir den Google oder Apple Store, kostenlos, billig, nicht reguliert, keine Qualität. Wir entwickeln Therapie-Software oder auch Anwendungen, aber keine „Apps“. Das hat übrigens auch Datenschutzgründe. Nehmen wir mal an, Sie könnten unsere Therapie „Vorv!da“ über den Apple Store erwerben. Dann wüsste man im kalifornischen Cupertino, dass Sie ein Alkoholproblem haben. Wir wollen nicht, dass solche Informationen bei Unternehmen in den USA landen, und das sage ich als Amerikaner. Der Patientenschutz ist für uns ein sehr hohes Gut. Deshalb gibt es nur Web-Anwendungen bei uns und das spiegelt genau die Wertigkeit der Therapien wider.
Wir sind kein Startup, das etwas bastelt und dann sagt „Oh, Moment, wir brauchen klinische Evidenz – was ist das überhaupt? Im Gegenteil: Wir gehen im Grunde genauso vor wie ein forschendes Pharmaunternehmen – nur das unsere Therapie eben digital und nicht medikamentös ist. Deshalb ist es uns so wichtig, permanent zu betonen, dass wir kein App-Anbieter und kein Startup sind. Wir sind ein Forschungs- und Entwicklungsunternehmen, das immer versucht, seine Endpunkte zu erreichen und nachzuweisen. Das gelingt uns nicht immer, aber das ist ganz normal, wenn man Studien seriös durchführt. Wir bringen nur Produkte auf den Markt, die ihre Wirksamkeit bewiesen haben.
Können Patienten direkt auf Ihre digitalen Therapien zugreifen, oder gehen Sie immer den Weg über die Empfehlung des Arztes oder auch der Krankenkasse?
Wir bieten unsere Produkte in Deutschland nicht für Selbstzahler an. Was wir aber tun: Wir bieten laiengerechte Informationen über unsere Therapien an, damit Patienten ihre behandelnden Ärzte darauf ansprechen können. Genauso wichtig ist es aber auch, dass wir die Behandler edukativ über diese neuen Arten der Behandlung informieren. Es gibt ja beispielsweise Patienten, die extrem unter den Nebenwirkungen einer medikamentösen Therapie leiden. Da ist es wichtig, dass die Behandler wissen, dass es auch andere wirksame Therapieoptionen gibt.
Wie ist denn die Akzeptanz digitaler Therapien bei den deutschen Ärzten?
Das ist bei digitalen Therapien auch nicht anders als bei anderen Innovationen: Es gibt Early Adopters, es gibt Fast Followers, dann kommt die große Mehrheit und schließlich die Late Followers. Bei den digitalen Therapien stehen wir noch am Anfang, im Stadium der Early Adopters. Wir sind noch sehr weit von dem Punkt entfernt, an dem man sagen könnte, ein Viertel aller Behandler hat wenigstens einmal eine digitale Therapie verschrieben. Wir sind aktuell im einstelligen Prozentbereich.
Was aber auch klar ist: Die Demografie macht digitale Therapien alternativlos. Es wird in Zukunft immer weniger Ärzte und Therapeuten geben, die Bevölkerung wird immer älter, die Bedürfnisse wachsen und das Gesundheitssystem gerät zunehmend an seine Versorgungsgrenzen. Die einzigen Lösungen für diese Problematik sind Automatisierung und Digitalisierung.
Ist die Situation auf der Patientenseite ähnlich?
Ich würde sagen, die Patienten sind aufgeschlossener als die Ärzte. Das liegt auch an „Dr. Google“. Wenn Patienten unter einer Erkrankung leiden und nach Unterstützung und Hilfe suchen, sind sie automatisch in einer aktiveren Rolle. Sie suchen und fordern eine holistische Versorgung. Für die Behandler ist das häufig – noch – anstrengend, weil sie sich noch nicht mit digitalen Therapien beschäftigt haben.
Wie ist die Wettbewerbssituation im Markt der digitalen Therapien?
Für uns gibt es aktuell keine Konkurrenz. Wettbewerber haben wir erst, wenn der Markt gesättigt ist. Bis dahin sehen wir andere Unternehmen, die in diesem Bereich tätig sind, als Mitgestalter des Marktes. Solange sie entsprechende Qualitätsstandards haben, tun alle Gutes, indem sie diese neuen Therapieformen pushen. Genau das ist übrigens auch einer der Gründe, warum wir im vfa sind. Wir freuen uns über einen kompetenten Verband an unserer Seite, der unsere Werte teilt, für dieselbe Qualität steht und uns dabei hilft, das Thema Digitalisierung in der Versorgung voranzubringen.
Wie groß ist die Schnittmenge zwischen den traditionellen Pharmafirmen im vfa und GAIA als Anbieterin digitaler Therapien?
Was uns verbindet, ist, dass wir alle forschungs- und entwicklungsgetrieben sind. Damit haben wir auch die Gemeinsamkeit, dass F&E einen sehr, sehr großen Teil unserer Kosten ausmacht. Der Entwicklungszeitrahmen, die Technologie, die Regulatory-Komponente, die Studien – das alles verbindet uns mit den „alten“ vfa-Mitgliedern.
Es ist wichtig für Deutschland, dass hier Innovationen entstehen, aber Innovation hat nun mal ihren Preis. Der vfa vertritt genau das gegenüber der Politik, nämlich dass innovative Therapien bestimmten Entwicklungszyklen und Qualitätsstandards unterliegen und deshalb auch einen gewissen Preis haben müssen.
Selbst wenn wir bei GAIA im Vergleich zu einem Startup über einen großen, tollen Apparat verfügen, können wir ein digitales Therapeutikum nicht innerhalb von drei Monaten entwickeln. Das dauert zwei bis drei Jahre, und es sind viele Menschen daran beteiligt. Und wenn man dann sagt, das soll es für 29,99 Euro im App-Store geben, dann haben wir ein Problem. Und genauso ist es bei den forschenden Arzneimittelherstellern. Der Aufwand muss honoriert werden. Es geht um Innovation, und deshalb ist der vfa der richtige Verband für uns.
Sie sind Amerikaner, und Sie haben auch schon in Asien gearbeitet. Wie rückständig sind wir in Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Auf der einen Seite geht natürlich vieles sehr langsam, wie beispielsweise bei der elektronischen Patientenakte. Ich bin ein großer Fan des Datenschutzes, aber ich denke, es gibt hierzulande gelegentlich ein „Over-Engineering“, das es kranken Menschen zu schwer macht, an innovative Lösungen zu kommen. Ich wüsste auch kein anderes Land, in dem die Fax-Dichte in Arztpraxen noch so hoch ist (lacht).
Andererseits: Beim Umgang mit digitalen Therapien ist Deutschland international führend. Für mehr als 70 Millionen Menschen hat man digitale Therapien erstattungsfähig gemacht – das setzt weltweit einen Standard. Der Bundesgesundheitsminister hat jüngst eine Digitalisierungsstrategie für Gesundheit und Pflege formuliert und damit Fahrt in das Thema gebracht. Die deutsche Politik macht vieles richtig und ist damit vorbildlich für viele andere europäische Länder, zum Beispiel Frankreich, wo man gerade versucht, das Digitale-Versorgung-Gesetz und das BfArM-Verfahren nachzuahmen. Vielleicht bin ich zu sehr Amerikaner, aber für mich ist das Glas halb voll und nicht halb leer.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Sugarman.
Han Steutel, Präsident des vfa zum Thema Digitale Therapien:„Digitale Therapien bieten großes Potenzial für die Medizin und die gerade vorgestellte Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen wird den DiGAs zusätzlichen Rückenwind verschaffen. Dieses Zukunftsthema sehen wir wie gemacht für den vfa, denn unser Verband steht für Forschung und Innovation. Deshalb wollen wir auf dem Feld der Digitalisierung auch noch weiter wachsen.
Digitalstrategien gehören schon lange zur Pharmaindustrie, etwa in der Forschung oder im Vertrieb. Und die sogenannte personalisierte Medizin, also individuell abgestimmte Therapien, spielen ebenfalls schon länger eine wichtige Rolle im Strategiemix unserer Mitgliedsunternehmen. Da passen Firmen mit einem puren Digitalansatz sehr gut zu uns und können den Zukunftsdialog der Branche nur beleben.
Gesundheitsanwendungen, wie von GAIA angeboten, durchlaufen genau wie chemische Moleküle oder Proteine einen professionellen Entwicklungsprozess mit anschließendem formalisierten Zulassungsverfahren. In diesem Sinne unterscheiden sie sich nicht von klassischen Therapien und passen wie innovative Medikamente gut zum vfa. Am Ende entscheidet der messbare Fortschritt in der Therapie, also der medizinische Mehrwert für Patientinnen und Patienten, was erfolgreich ist.“