Fragen und Zuhören ist entscheidend

03.04.2018 18:25
Das Schlagwort Patientenzentrierung (oder auch Patient Centricity) bewegt die Pharmaindustrie seit einiger Zeit besonders stark. Nicht umsonst hat beispielsweise die Stuttgarter Agentur Schmittgall Health unlängst Workshops zu diesem Thema für Teilnehmer aus der Pharmaindustrie angeboten, und die zweite Veranstaltung der „Reth!nk Healthcare“-Reihe von Peix Healthcare Communication, die im November dieses Jahres stattfindet, steht unter der Überschrift „Power to the patient. Wie Patient Centricity unsere Kommunikation verändert“. Doch standen die Bedürfnisse der Patienten nicht schon immer im Mittelpunkt der Tätigkeit von Pharmaunternehmen? Was ist das Neue, das die aktuelle Diskussion ausmacht?

>> Peter Mitterhofer, Vorsitzender der Geschäftsführung von UCB Pharma, sagt, dass es für sein Unternehmen tatsächlich nichts Neues sei, den Patienten in den Mittelpunkt zu stellen. Schließlich habe UCB schon seit längerem das Credo, bei allem, was man tue, die einfache Frage zu stellen: „Wie wird es das Leben von Menschen verändern, die mit schweren Erkrankungen leben?“ Daher sehe man die Thematik weder als neu an noch kehre man sie in Kommunikation oder Marketing groß nach außen. „Das Wichtigste ist in meinen Augen“, betont Mitterhofer, „dass intern die Kolleginnen und Kollegen verstehen, welchen Beitrag sie jeden Tag zum Wohle des Patienten leisten. Denn wenn dieses Verständnis erlangt ist, sprechen wir von einer kulturellen Veränderung, die eine wirkliche ‚Patientenzentrierung‘ erst möglich macht.“

Genau diesen kulturellen Wandel habe UCB schon vor Jahren eingeleitet. Die Strategie des Unternehmens sei am Patienten ausgerichtet – „für uns ist es die Patient Value Strategy“, so der UCB-Geschäftsführer. Durch Workshops für alle Mitarbeiter weltweit habe man dieses Verständnis und das entsprechende Bewusstsein erlangt. Zudem werde das Thema vor allem in der internen Kommunikation immer wieder aufgegriffen. „Wichtig ist hierbei: Es gibt keine Abteilung, die patientenzentrierter arbeitet als eine andere. Jede Abteilung und jede Kollegin und jeder Kollege können jeden Tag einen entscheidenden Beitrag leisten“, sagt Peter Mitterhofer.

Unterschiedliche Bedürfnisse besser verstehen

Auch für Kathrin Krabbe, Gruppenleiterin Marketing Funktionelle Urologie bei Apogepha Arzneimittel, ist die Patientenzentrierung nichts grundsätzlich Neues. „Der Patient stand und steht immer im Zentrum unserer Arbeit; von der Arzneimittelentwicklung bis zur Vermarktung und Anwendung.“ Dafür pflege das Unternehmen seit jeher das Gespräch und den Austausch mit Ärzten, die schließlich im direkten Kontakt zum Patienten stehen und den therapeutischen Bedarf und die Bedürfnisse des Patienten kennen. „Jede Entwicklung und jeder Schritt nach vorne soll die Gesundheit und die Lebensqualität verbessern und einen Nutzen für den Patienten bringen“, sagt Kathrin Krabbe. Neu ist ihrer Meinung nach, dass diese Bestrebungen nun einen Namen bekommen haben und gegliedert in Konzepte gebracht werden, was aber natürlich dabei helfe, unterschiedliche Bedürfnisse besser zu verstehen und auf diese Weise viel individueller handeln und therapieren zu können.

Für Apogepha sei eine patientenzentrierte Unternehmensphilosophie stets der Anspruch gewesen. „Dabei ziehen alle Mitarbeiter und Abteilungen an einem Strang“, betont Kathrin Krabbe. Um dieses Bewusstsein noch weiter zu stärken, hat das Unternehmen im letzten Jahr beispielsweise die Fortbildungsinitiative „URO Colleg“ gegründet, die demnächst eine interne Kommunikationsplattform bieten wird, auf der sich alle Mitarbeiter austauschen und ihr Fachwissen erweitern können. „Unsere Unternehmensvision ‚Wir verbessern die Lebensqualität von Menschen mit urologischen Erkrankungen‘ stellt ganz bewusst den Patienten in den Fokus“, so Krabbe.

Ganz entscheidend dafür, eine patientenzentrierte Philosophie mit Leben zu füllen, ist, die Patienten zu verstehen – und das geht wohl kaum, ohne mit ihnen einen Dialog zu führen. Bei UCB geschieht dies beispielsweise über Patientenbotschafter, mit denen sich das Unternehmen regelmäßig austauscht. Input würden aber auch Pflegepersonal und Angehörige liefern, mit denen man im Rahmen von Workshops in den Dialog tritt, wie Peter Mitterhofer berichtet. Neue Ideen würden außerdem in Usability-Studien mit Patienten und Angehörigen getestet. Als Beispiel nennt Mitterhofer das transdermale Rotigotin-Pflaster, das man in den letzten Jahren kontinuierlich aufgrund von Patientenfeedback weiterentwickelt und in Bezug auf Klebeeigenschaft und Design verbessert habe. Im Zeichen dieser Weiterentwicklung stehe auch das innovative Verpackungskonzept, das man aufgrund des Feedbacks von Patienten und Ärzten konzipiert habe. Im Vordergrund dieses Verpackungskonzeptes stehe die Patientenorientierung, denn es sei getreu dem Motto „Für Patienten gedacht, mit Patienten gemacht“ entstanden. Neben Handhabungsvorteilen vom Öffnen der Packung bis zur Applikation des Wirkstoffpflasters könne es auch zu einer besseren Compliance beitragen, da die wichtigen Informationen zum Medikament und dessen Anwendung gut verständlich dargestellt seien. All diese Verbesserungen seien mit Patienten entwickelt und getestet worden – „wohlgemerkt bei einem Produkt, dass schon lange auf dem Markt ist“, unterstreicht Mitterhofer.

Um dieses patientenzentrierte Konzept im Tagesgeschäft „leben“ zu können, habe man bei UCB die gesamte Organisation, also alle Abteilungen von Medizin über Market Access, Vertrieb und Marketing bis hin zur Kommunikation, rund um den Patienten aufgebaut. „Wir verfolgen dabei die einfache Logik, dass wir im Markt nur erfolgreich sein können, wenn wir dem Patienten einen echten Mehrwert bieten“, sagt der Geschäftsführer. Um diesem Anspruch dann auch tatsächlich Tag für Tag gerecht zu werden, brauche man zum einen die einzelnen Abteilungen, die gemeinsam ihren Beitrag leisten. Einen Mehrwert für den Patienten zu erreichen, bedeute aber auch, dass man den Arzt, Apotheker und die Krankenkassen einbeziehen müsse. Denn nur wenn alle betroffenen Player beteiligt seien, könne man eine Win-Win-Win-Situation herstellen und nachhaltige Lösungen zum Wohl der Patienten erzielen.

Kathrin Krabbe von Apogepha antwortet auf die Frage, wie es ihrem Unternehmen gelingt, mit den Patienten in einen Dialog zu treten: „Das funktioniert nur über zwei Wege, die beide auf eines hinauslaufen: Fragen!“ Man müsse zum einen die Ärzte fragen, was sie für die Aufklärung und Therapie ihrer Patienten benötigen, und zum anderen die Patienten, was ihnen fehlt, womit Therapie und Krankheit erleichtert werden können und wo es offene Bedürfnisse gibt. „Und mindestens genauso wichtig wie das Fragen ist: das Zuhören!“, so Krabbe.

Der Urologie-Spezialist verzichtet beispielsweise bei der Entgegennahme und Beantwortung von Anfragen von Patienten, Ärzten oder Apothekern bewusst darauf, ein Callcenter zwischenzuschalten, sondern bei Apogepha nimmt man alle solchen Anrufe persönlich entgegen. „Soweit möglich beantworten wir die Fragen direkt, geben Erläuterungen oder raten dem Patienten, sich an seinen Arzt zu wenden. Wir nehmen auf diese Weise viele wertvolle Hinweise und auch Stimmungen auf“, berichtet Krabbe.

Natürlich sei es eine Herausforderung, sich immer wieder auf neue Bedürfnisse und Anforderungen einzustellen und die richtige Kommunikation zu wählen, sagt die Marketingspezialistin, „aber genau das macht unsere Aufgabe aus. Es macht Freude zu sehen, dass man damit Patienten und Angehörige erreicht und vielleicht auch helfen kann. Ich glaube, dass viele Menschen, die im Gesundheitswesen tätig sind, dies so erleben.“ Beim Thema „Einnässen im Kindesalter“ zum Beispiel biete Apogepha neben sehr guten Medikamenten einen umfassenden Service für Arzt, Kind und Eltern. Patientenkommunikation, also die Einbindung und Motivation des Kindes und der Eltern, spielten hier eine sehr große Rolle, so Krabbe, denn sie seien für den Therapieerfolg entscheidend.

Für Dr. Natascha Terp von der Kommunikationsagentur 2strom, die für Pharmakunden „Innovationsworkshops“ anbietet, bei denen sie die unterschiedlichsten Stakeholder an einen Tisch holt, um im Sinne des Design Thinkings die menschliche Perspektive zum Ausgangspunkt zu machen, gibt es den Trend zu mehr Kommunikation mit dem Patienten schon lange – früher habe man das „Patient Engagement“ genannt, und nun sei es eben „Patient Centricity“. Unterschiede gebe es aber schon: Zum einen hätten die Medical-Affairs-Abteilungen der Unternehmen jahrelang gepredigt „Do not communicate to patients“, was – vor allem von den Marketingabteilungen – fälschlicherweise so ausgelegt worden sei, dass die Kommunikation mit dem Patienten nur bedingt möglich sei. Es sei aber natürlich etwas anderes gemeint gewesen, so Terp, nämlich: „Do not promote to patients“ – und genau dieser entscheidende Aspekt habe sich im Laufe der Zeit geändert. Patient Centricity sei nicht nur Aufgabe der Marketingabteilung, sondern sie erstrecke sich auf die vielfältigsten Bereiche des Unternehmens: Anfangend bei den Phase-3-Studien, die es sich nicht mehr leisten könnten, auf Patienteninput zu verzichten, über die Unternehmenskommunikation hin zur Marketingabteilung.

Vor allem aber hat die Digitalisierung ihren Anteil an der zunehmenden Bedeutung der Patientenzentrierung, wie Terp sagt. Durch den leichteren Zugang zu Informationen könne der Patient zum eigenen Gesundheitsmanager werden, zudem sei die Kommunikation mit anderen Betroffenen, aber auch mit Healthcare Professionals deutlich einfacher. Gleichzeitig biete die Digitalisierung Innovationen, um den Patienten beim „managen“ seiner Gesundheit zu unterstützen. „Der Wandel vom ‚passiven‘ zum ‚aktiven und aufgeklärten‘ Patienten ist schon lange im Gange“, so Natascha Terp.

Die zunehmende Digitalisierung sei aber für die deutsche Pharmalandschaft auch eine Herausforderung. Die Unternehmen hätten zwar verstanden, dass sich die Rolle des Patienten verändert habe, häufig erschöpfe sich die Patientenzentrierung aber noch in Health-Apps oder Indikationswebsites, die stärker an der Informationsüberladung als am echten Patientenbedarf ausgerichtet seien. Noch stärker sei der Rückstand bei Forschung und Studien. „Man möchte Patient Centricity gerne leben, traut sich aber nicht“, stellt Terp fest. „Dabei muss die Industrie verstehen, dass sich Patient Centricity nicht auf die zwei Parteien ‚Unternehmen‘ und ‚Patient‘ beschränkt.“ Es gehe um die Versorgung des Patienten insgesamt und schließe daher auch die Beteiligung weiterer Stakeholder mit ein. Echte Patient Centricity setzt ihrer Überzeugung nach auch Transparenz voraus. „Hier sitzt die Furcht der Industrie aber tief – nicht umsonst fühlt man sich mit dem schlechten öffentlichen Image in eine Ecke gedrängt.“

Diese „Furcht“ hat auch die „Pharma Relations“-Redaktion einmal mehr bei der Recherche zum Thema Patientenzentrierung registriert, denn anders als UCB und Apogepha zogen es die meisten Unternehmen vor, auf konkrete Fragen dazu nicht zu antworten. Meist hieß schlicht und einfach, man könne (oder wolle) an der Befragung nicht teilnehmen; ein Unternehmen bekannte immerhin freimütig, man müsse sich eingestehen, dass man beim Thema Patient Centricity noch in den Kinderschuhen stecke und erst einmal seine Hausaufgaben machen müsse. Unfreiwillig komisch war die Absage eines großen forschenden Arzneimittelherstellers: „Wir leben dieses Thema sehr intensiv – es spiegelt sich praktisch in der Haltung eines jeden Mitarbeiters wider. Unsere Ansprechpartnerin für den Bereich ist allerdings leider erst Anfang April wieder im Haus.“

Natascha Terp warnt die Industrie davor, sich zu viel Zeit bei der Umsetzung der Patientenzentrierung zu lassen, denn es sei nur eine Frage der Zeit, wann sich ein „Amazon med“ in die Rolle des Patientenverstehers begebe. „Diese Rolle sollte sich die Industrie aber nicht aus der Hand nehmen lassen!“

Für Wolf Stroetmann von Schmittgall Health ist das grundsätzlich Neue „der fundamentale Perspektivwechsel schon in der Entwicklung der Therapie und in der Patientenansprache.“ In der Therapie konzentriere man sich nicht mehr ausschließlich auf die Indikation, sondern berücksichtige auch die relevanten Bedürfnisse, Vorbehalte und Ängste der Patienten um die Therapie herum mit. Dies führe in der Konsequenz zu einer Patientenansprache, die proaktiv aus der Bedürfnislage der Zielgruppen und deren Umfeld heraus entwickelt wird. Neu sei auch, dass die „Patient Centricity“ zum Ausgangspunkt für die Entwicklung und Steuerung des kompletten Marketings geworden sei. Dieser Perspektivwechsel von absenderorientierter zu bedarfsorientierter Kommunikation führe zu einer KPI-basierten Zielgruppenansprache und Maßnahmensteuerung. „Ohne die Methode ‚Patient Centricity‘ wäre diese hochdifferenzierte Zielgruppenansprache heute nicht möglich.“

Zwar beschäftige sich bereits ein Großteil der Pharmaunternehmen mit dem Thema Patient Centricity, die erfolgreiche Einführung und vor allem Steuerung nach dieser Methode sei jedoch unterschiedlich weit fortgeschritten ist. „Man muss berücksichtigen, dass die Methode nicht wie ein Standard einzuführen ist, sondern jedes Unternehmen seine eigenen Prozesse entwickeln muss und damit das Thema individuell ausgestaltet“, gibt Stroetmann zu bedenken. Die größte Herausforderung liegt für ihn zunächst einmal darin, sich auf den notwendigen Perspektivwechsel einzulassen. „Hier ist ein Loslassen der etablierten Prozesse und Mechanismen gefragt und der Mut, nicht mehr die eigene Botschaft, sondern das Bedürfnis des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen.“ Habe sich ein Arzneimittelhersteller erst einmal dazu entschlossen, die Unternehmensphilosophie in Richtung Patientenzentrierung zu drehen, sei es wichtig, die Methode professionell aufzusetzen und die Maßnahmen im Marketing daran auszurichten.

Dirk Poschenrieder von Havas Life findet es „bemerkenswert, dass ‚Patient Centricity‘ überhaupt etwas ist, über das wir sprechen müssen – sollte sie nicht selbstverständlich sein?“ Er empfiehlt, erstmal einen genauen Blick auf den Begriff „Patient Centricity“ zu werfen – und nennt dann die Definition von Guy Yeoman, ehemals VP Patient Centricity, Global Medical Affairs bei AstraZeneca, die es ziemlich genau auf den Punkt bringe: „Putting the patient first in an open and sustained engagement of the patient to respectfully and compassionately achieve the best experience and outcome for that person and their family.“ Wirklich neu findet Poschenrieder den Ansatz aber nicht. Als er noch auf Unternehmenseite bei einem forschenden Pharmaunternehmen arbeitete, habe man das „Beyond the pill“ genannt, und heute eben „Patient Centricity“!

Um dieses Konzept wirklich umsetzen zu können, bedürfe es in den Unternehmen vor allen Dingen Ressourcen und eines Umdenkens. Es mangele den Unternehmen nicht an Ideen, aber Patientenzentrierung ziehe immer auch einen Unternehmenswandel mit sich. Und der komme – wie in den meisten Fällen – „top down“. „Nur wenn das Management die eigenen Mitarbeiter ermutigt, ‚patientenorientiert‘ zu denken, und den echten Wunsch hat, Patientenorientierung auch in der Unternehmenskultur zu verankern, erst dann kann Kundenorientierung zum Wohle des Patienten entstehen“, so Poschenrieder. Patientenzentriertheit scheine im Augenblick „der heilige Gral“ der modernen Pharmazie zu sein, aber bis dahin müssten noch viele organisatorische und kulturelle Barrieren überwunden werden, um – zum Teil – über klassische Imagekampagnen hinauszugehen.

Für den Havas-Life-Chef geht es auch darum, Patienten wie Kunden zu betrachten, was aber bislang nicht allzu viele Arzneimittelhersteller tun würden. Man müsse sich fragen, was die Kunden wünschen und vor welchen Herausforderungen sie stehen – und das seien vor allem zwei Dinge: Patienten, insbesondere die jüngeren, forderten eine stärkere Beteiligung an Behandlungsentscheidungen und wollten ihre Erkrankung und mögliche Therapieoptionen vollständig verstehen. Daher seien die Tage der Broschüren und Flyer im Wartezimmer und der One-Way-Kommunikation von Arzt zu Patient schon lange vorbei. „Die Menschen informieren sich im Internet und erhalten da oft falsche bzw. widersprüchliche Informationen. Und das bietet einen großen Ansatz für die Pharmahersteller: Glaubwürdige, leicht verständliche Informationen bereitstellen, die es den Kunden ermöglichen, die Themen zu verstehen!“

Letztlich könne man die Wünsche der Patienten auf einen reduzieren: Gesund zu werden bzw. zu bleiben. Das bedeute aber nicht nur eine bessere Behandlung, sondern es gehe auch darum, Produkte mit Services zu versehen, die einen echten Mehrwert bieten, so Poschenrieder: „Und da wären wir schon beim Thema Digitalisierung.“ Ein Großteil der Attraktivität der heutigen digitalen Kommunikation beruhe auf dem hohen Grad an Personalisierung. Wer habe nicht bei Spotify „seine Playlist“? Oder kenne nicht den „Wie-für-mich-gemacht-Kredit“ der Targobank? Warum gebe es dann nicht auch „Meine Behandlung“? „Ich glaube, dass der ‚Nur-für-mich‘-Ansatz die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Kommunikation stärkt und dazu beitragen kann, bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen.“ Wenn diese digitalen Tools und Services auch dem medizinischen Fachpersonal zur Verfügung gestellt würden, könne die Arzt-Patienten-Kommunikation endlich auch personalisiert und auf Augenhöhe geführt werden.

Digitalisierung ermöglicht echtes Patientenengagement

Bei der Patientenzentrierung gehe es nicht um die Entwicklung losgelöster Einzelmaßnahmen, sondern um die Integration des Ansatzes in die Unternehmensphilosophie und eine noch stärkere Digitalisierung. Denn erst durch die Digitalisierung würden Pharmakonzerne in die Lage versetzt, sich tief und nachhaltig mit Patienten auszutauschen und deren Interessen in den Mittelpunkt zu rücken. „Die Digitalisierung ermöglicht ‚echtes‘ Patientenengagement“, so Poschenrieder.

Zwar hätten die Pharmafirmen das Thema „Patient Centricity“ schon lange auf ihrer Agenda, umgesetzt werde es aber bisher nur von wenigen wirklich konsequent, findet Thomas Lemke (Peix Healthcare Communication). Vor allem bei beratungsintensiven Erkrankungen wie zum Beispiel der Multiplen Sklerose habe die Industrie aber tatsächlich Meilensteine gesetzt, was Umfang und Qualität der auf den Patienten und seine Angehörigen bezogenen umgesetzten Maßnahmen und Servicetools angehe. In der jüngeren Vergangenheit hätten Pharmafirmen dann erkannt, dass es auch in weniger dramatischen Erkrankungsbereichen einen starken Bedarf an gut aufbereiteten Informationen und Servicetools gebe, die den Arzt entlasten und helfen, die Therapie des Patienten zu optimieren. Gerade bei innovativen Medikamenten gehöre ein umfangreiches Serviceangebot für die Patienten und ihre Angehörigen immer mehr zum Standard und würden auch erwartet – sowohl vom Arzt als auch vom Patienten.

Nach Lemkes Erfahrung fangen viele Unternehmen gerade an, sich im Patientenbereich – begleitend zu den medikamentösen Therapien – verstärkt zu engagieren. Gerade bei den innovativen Medikamenten, an die auch gewisse Umsatzerwartungen gekoppelt seien, stehe die Patientenzentrierung zunehmend im Vordergrund. „Dabei dreht es sich neben dem Patienten natürlich auch um den Arzt, der bei der jeweiligen Therapie durch die Patientenangebote unterstützt werden soll. Und diese Serviceleistungen für Patienten können neben den Medikamenten dabei helfen, sich von den Wettbewerbern zu differenzieren.“

Der Peix-CEO stellt fest, dass die meisten Pharmafirmen den höchsten Beratungsbedarf im Bereich der erfolgreichen Nutzung von digitalen Medien haben. Mit den klassischen Medien habe man viel Erfahrung, doch was die sozialen Medien betreffe, stünden viele Firmen noch am Anfang. „Nicht immer ist klar, welche Medien mit welchem Aufwand sinnvoll genutzt werden können – oftmals geht es um das ‚Dabeisein ist alles‘.“

Auch für Ursula Schmitz, Chefin der Agentur Selinka/Schmitz, ist das Thema Patientenzentrierung nichts grundsätzlich Neues. Neu sei aber, dass dieses Thema stärker ins Zentrum der Marketing- und Kommunikationsaktivitäten gerückt sei und als das erkannt werde, was es ist: „der wesentliche Schlüssel für den Erfolg des gesamten Gesundheitssystems“, so Schmitz. Denn Patientenzentrierung führe automatisch zu einem Mehrwert für alle Beteiligten: Der Arzt steigere seinen Therapie-Erfolg, denn seine Arbeit mit und für den Patienten werde effizienter, er sei „näher“ am Menschen und nicht nur an der Erkrankung. Patientenzentrierung steigere die Adhärenz der Patienten, denn nur wer seine Therapie verstehe und bestmöglich betreut werde, sei dauerhaft therapietreu. Und das wiederum habe Vorteile für die Kassen und die Pharmaindustrie. „Patientenzentrierung bedeutet nahe Kommunikation am und für den Patienten und den Arzt“, so Schmitz. Solche Services und Aktivitäten könnten zudem dabei helfen, sich von Mitbewerbern abzugrenzen – nur das Medikament oder eine Substanz anzubieten, reiche längst nicht mehr aus. Insights, Unmet Needs und Bedürfnisse von allen Beteiligten zu kennen, sei der Schlüssel zum Erfolg, und dem Arzt neben dem Produktnutzen die reale Patientenwelt und Lebenssituation anschaulich und verständlich zu vermitteln, sei eine der neuen Aufgaben der Pharmaindustrie. „In Zeiten der Digitalisierung ist das einfacher denn je“, betont Ursula Schmitz. „Videos, Statements, Blogger, Virtual Reality und Co. machen den Austausch und die Vermittlung der Patientenwelt so lebendig wie nie zuvor.“

Ihrer Überzeugung nach ist Patientenzentrierung kein „Nice To Have“, sondern ein absolutes „Must Have“ und mindestens so wichtig wie die Produkte selbst. Ein solcher Wandel in Strategie, Taktik und Planung passiere aber nicht von heute auf morgen und nicht wie von selbst. Schmitz: „Das Selbstverständnis der Pharmaindustrie muss sich ändern. Das bedeutet, neue Wege zu gehen.“

Sie könne sich noch gut an das Buzzword „Direct to Patient“ erinnern, das aufkam, als man entdeckte, dass ein immer mündiger werdender Patient Einfluss auf eine Therapieentscheidung haben könnte und der Patient deshalb in den Fokus des Marketings rückte, sagt Bianca Eichner (WE Communications). Danach seien „Patient Relations“ als eigene Funktion auf Selbsthilfegruppen- und Patienten-Experten-Ebene und das Buzzword „Co-Creation“ gefolgt. Diese zwei Beispiele aus der Vergangenheit und auch noch Gegenwart seien weder falsch noch unwichtig, Patientenzentrierung habe aber eine andere Qualität und – je nachdem wie ernst man sie nimmt oder wie tief sie im Business Modell verankert ist – auch unterschiedliche Ausrichtungen und Intensitäten. Das hänge auch davon ab, wie die firmeneigene Definition von Patientenzentrierung laute, wo das Thema im Unternehmen aufgehängt sei und wohin das Unternehmen letztlich wolle. Genau dazu hat WE Communications kürzlich eine Umfrage durchgeführt (siehe Seite 12).

Wo ist das Thema aufgehängt?

Wie stark diese Philosophie in den einzelnen Unternehmen schon gelebt wird, hängt für Eichner stark davon ab, wo das Thema im Unternehmen aufgehängt ist und welche Funktionen – sofern es Dezidierte gibt – sich damit beschäftigen. Von Patient Relations, Patient Service über Patient Engagement bis hin zu Patient Affairs sei hier alles zu finden, und ebenso Corporate Communications, die es als Unternehmensthema vorantreiben will. „Rein kommunikativ betrachtet fängt Patientenzentrierung dort an und wird dann auch in diesen Abteilungen gelebt, wenn man sich ein tiefes und ganzheitliches Verständnis des Patienten in seiner Lebenswelt – neben der wichtigen Therapie – erarbeitet.“ Aber genau dabei sehe sie große Unterschiede: „Manche Unternehmen sprechen nicht einmal persönlich mit Patienten, aber viel über sie, und investieren nicht in die Insight-Gewinnung oder eine Journey.“

Die Unternehmen müssten entscheiden, ob und wie sie Patientenzentrierung verstehen und implementieren wollen. Egal wie die Entscheidung am Ende laute, es sei ein Change, betont Eichner. Die initiale Frage sei deshalb mit dem Management zu klären, anschließend müsse man eine schlüssige Strategie und einen Implementierungsplan entwickeln. So oder so sei Patientenzentrierung nichts, was von heute auf morgen funktionieren werde, denn die Mitarbeiter müssten es mittragen und leben – und das sei meist die größte Herausforderung. Wenn man von einer realen bis zuletzt konsequenten Patientenzentrierung sprechen wolle, so Eichner, dann müsste der Außendienst nicht sagen „Heute verkaufe ich eine zielgerichtete Krebstherapie, um mein vorgegebenes Ziel zu erreichen“, sondern „Heute rette ich ein Patientenleben“. Bianca Eichner: „Das wäre die perfekte Wunschwelt ‚Patientenzentrierung‘ – ein weiter Weg!“ <<

Ausgabe 04 / 2018

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