Herr Kraft, bei TikTok denkt man zunächst eher an spaßige Inhalte. Warum sollten Ihre Kunden aus der Pharma- und Medizintechnik-Industrie dort präsent sein, wenn es um Recruiting-Themen geht?
Der Fachkräftemangel ist jetzt schon allgegenwärtig, und er wird sich in Zukunft noch weiter verschärfen. Vor diesem Hintergrund halte ich es für wichtig, keinen Kommunikationskanal auszuschließen, sondern sich zu fragen, welche Wege, die bisher unerschlossen sind, gibt es noch, um potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten zu erreichen?

TikTok gilt als sehr junges Netzwerk. Welche Zielgruppe kann ich als Unternehmen dort erreichen?
Bis vor gar nicht so langer Zeit war es tatsächlich so, dass auf TikTok fast ausschließlich bis 25-Jährige unterwegs waren. Das hat sich aber sehr verändert. Mittlerweile ist es so, dass bereits über 50 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer im Alter bis 40 sind. Es gibt schon alleine sehr viele, die wissen möchten, was die „jungen Leute“ oder auch die eigenen Kinder dort machen, und deshalb gehen sie auch auf TikTok.

Welche Vorteile bietet TikTok gegenüber anderen Netzwerken?
Auf Plattformen wie Facebook und Instagram ist es mittlerweile nur noch möglich, eine hohe Reichweite zu erzielen, wenn man ziemlich viel Geld investiert. Bei TikTok kann man noch organisch eine hohe Reichweite aufbauen. Denn TikTok setzt im Moment sehr stark darauf, durch den Algorithmus zu glänzen und setzt weniger stark als andere auf den Paid-Aspekt. TikTok ist zwar eine noch junge Plattform, sie will aber „erwachsen“ werden, indem sie guten Content stärker belohnt, als das beispielsweise bei Instagram der Fall ist. Davon können Unternehmen stark profitieren, und zwar nicht nur beim Recruiting, sondern auch in der Produktkommunikation. Und ich kann, wenn mein Kommunikationsmix stimmt, auch ein ganz breites User-Spektrum abholen.

Es gibt ja häufig das Vorurteil, TikTok stehe eher für seichte Inhalte.
TikTok steht tatsächlich vor allem für Spaß. Spaß sollte man aber nicht mit „seicht“ gleichsetzen. Spaß und Ernsthaftes schließen sich gegenseitig nicht aus. Ich kann auch ein ernstes Thema auf eine coole Art „witzig“ oder unterhaltsam vermitteln. Die „Tagesschau“ wäre auf TikTok sicherlich falsch, denn sie hätte dort keine Chance gegen andere Formate. Man muss Inhalte auf dieser Plattform schon anders vermitteln. Was man sich klar machen sollte: Die junge Generation „googelt“ auf TikTok. Sie sucht dort nicht nur nach „Seichtem“, sondern will auch ihr Wissen erweitern. Es ist eine Art Wikipedia mit Videocontent. Wenn ein junger Mensch etwas über die Pharma- oder Medizintechnik-Industrie wissen will, dann sucht er mit großer Wahrscheinlichkeit erst einmal auf TikTok, und dann wird er auf die Unternehmen aufmerksam, die ihm guten Content anbieten.

Wie aufgeschlossen sind Ihre Kunden aus der Healthcare-Industrie für diesen Kanal? Wie sind die Reaktionen, wenn Sie empfehlen „Machen Sie doch mal etwas auf TikTok“?
Die Reaktionen sind extrem skeptisch. Leider! Denn man kann dort tatsächlich die Generationen erreichen, die beim Recruitment relevant sind. Beispielsweise suchen viele Unternehmen nach 20- bis 25-Jährigen, weil sie ihre Ausbildungsplätze gar nicht füllen können. Eine übertriebene Skepsis halte ich für unangebracht, ich empfehle aber, vorsichtig zu sein. Denn der Grat, der zwischen Humor und Blamage verläuft, ist schmal. Sehr hilfreich ist es zu schauen, was andere Firmen aus der eigenen Branche dort machen und welche Videos gut ankommen. Ein Mix aus Witz und Tiefgang funktioniert in der Regel gut. Sehr gelungen ist zum Beispiel der TikTok-Kanal des Klinikums Dortmund. Mit seinen witzigen, dynamischen Clips zeigt das Klinikum, wie man in Sachen Recruiting alles richtig macht.

Wobei es vielleicht in der Natur der Sache liegt, dass sich Pharma- und Medizintechnik-Unternehmen etwas schwer tun mit unterhaltsamen Inhalten. Erkrankungen sind schließlich ein ernstes Thema.
Das stimmt, andererseits plädiere ich für eine andere Art, mit solchen Dingen umzugehen. Das sind ja Themen mitten aus dem Leben. Für mich ist es auch ein Stück weit typisch deutsch, dass wir mit bestimmten Themen immer so ernst umgehen. Ich vergleiche das häufig mit Brasilien: Wenn dort jemand stirbt, wird gefeiert. Man feiert, dass derjenige gelebt hat. In Deutschland wird eher Trübsal geblasen. Ich verstehe das, ich selbst kann mich davon auch nicht komplett freimachen. In meinen Augen ist es aber an der Zeit, sich Themen anders zu nähern. Und auch über schwierige Themen offen zu sprechen. Ich denke, Pharmaunternehmen müssten für einen Kanal wie TikTok passende neue Wege finden, um ihre Produkte zu vermarkten, aber auch um als Arbeitgeber wahrgenommen zu werden. Verpackt man guten Content unterhaltsam, dann holt man die User ab.

Was sind die Basics, die ich auf jeden Fall berücksichtigen sollte, wenn ich als Unternehmen auf TikTok starte?
Natürlich kann man auch einfach mal testen, aber wenn man erstmal angefangen hat, eine Followerschaft aufzubauen, dann sollte man auch dabeibleiben. Wir erleben ziemlich oft, dass zu früh abgebrochen wird. Das ist dann extrem schade. Denn so funktioniert Marketing ja auch grundsätzlich nicht. Man muss dranbleiben.
Außerdem ist eine gewisse Frequenz wichtig. Wenn man mit einem Video pro Tag startet, ist man schon mal nicht schlecht. Der Algorithmus lebt eher von zwei bis drei pro Tag. Das klingt nach sehr viel Aufwand, aber die meisten Unternehmen haben eine Marketingabteilung, die bereits im Bereich Bewegtbild aktiv ist. Man muss das Rad nicht neu erfinden, sondern kann schon vorliegendes Material verwenden und das kurz und knackig für TikTok aufbereiten.

Wie werde ich auf TikTok am besten sichtbar, wenn ich starte?
Es ist natürlich wichtig, dass man seine Zielgruppe kennt. Wir unterstützen unsere Kunden auf TikTok vor allem beim Thema Employer Branding und da ist es das A und O zu definieren, wen ich suche. Im Recruiting nennen wird das die Kandidatenpersona. Will ich junge Menschen gewinnen, muss ich mich fragen, was diese Generation will. Welche Themen kann ich als Unternehmen zeigen, die sie interessieren? Man kann zum Beispiel Firmenevents zeigen und erklären, warum man diese in der heutigen Zeit für wichtig hält. Denn die Beziehungsebene ist heute deutlich wichtiger als die fachliche. Was tut das Team dafür, damit ich mich in diesem Unternehmen wohl fühle? So etwas interessiert die jüngere Zielgruppe.

Wie sollte ich auf TikTok auftreten?
Wir empfehlen, nicht nur mit einem Unternehmenskanal präsent zu sein, sondern zusätzlich als Person aufzutreten. Bei kleineren Firmen kann das der Inhaber oder Geschäftsführer sein, sonst natürlich der oder die Personalverantwortlichen. Das hat zwei Vorteile: Zum einen kann man die beiden Kanäle miteinander verlinken und damit so die Gesamtreichweite steigern. Was aber noch wichtiger ist: Es müssen Menschen vor die Kamera, die sich mit dem Unternehmen identifizieren, die ihm ein Gesicht geben. Das macht die Videos emotionaler und steigert den Wiedererkennungswert. Wichtig ist auch, dass man Storys erzählt, denn wir Menschen lieben Geschichten. Man kann Geschichten von den Mitarbeitenden erzählen oder von coolen Projekten. Oder auch von besonderen Herausforderungen und wie man diese gemeistert hat. Man sollte eine Storyline haben, die immer auch die Frage nach dem Warum beantwortet.

Was meinen Sie mit diesem Warum konkret?
Es geht nicht um das frische Obst am Arbeitsplatz. Es geht darum, dass der Content den tieferen Zweck der Organisation verständlich macht. In letzter Instanz ist das immer der Weltfrieden oder die Weltgesundheit. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist ganz normal, dass man letztendlich immer dort landet. Aber man hat davor eben auch noch ein paar Punkte. Jedes Pharmaunternehmen will die Welt gesünder machen, aber wie genau tut es das? Auf welche Art mache ich als Unternehmen die Welt zu einem cooleren Ort? Das sollte transportiert werden.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kraft.

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