Rückenschmerzen, ein brennendes Auge oder ein entzündeter Mückenstich: 62 Prozent der Internetnutzerinnen und -nutzer holen in Vorbereitung auf einen Arztbesuch Informationen zu ihren Symptomen im Internet ein, wie eine Umfrage des Branchenverbandes Bitkom im Januar ergab. Aber wer denkt, mit dem Arztbesuch seien alle Fragen beseitigt, irrt: 63 Prozent der Internetnutzer googeln demnach auch im Anschluss an einen Praxistermin Informationen zu ihren Symptomen, der Diagnose oder verschriebenen Medikamenten.

Web-Präsenz zu zeigen ist also für Pharmaunternehmen nicht nur Kür, sondern Pflicht. Doch ist das der Branche bewusst? „Seit etwa einem Jahr machen Workshops rund um die Aufklärung zum Thema SEO in Pharmaunternehmen einen immer größeren Teil meiner Tätigkeit aus. Im Vergleich zu anderen Branchen haben viele Unternehmen im Pharma- und Healthcare-Bereich die Relevanz organischer Online-Reichweite entweder noch nicht erkannt oder es nicht geschafft, die internen Redaktions- und Marketingprozesse entsprechend anzupassen und SEO-Projekte frühzeitig aufgegeben“, teilt Arne Heddinga, Senior SEO Consultant bei nitschmahler&friends, seine Erfahrungen. Denn hier liege einer der größten Knackpunkte: SEO dauere seine Zeit. Performance-Marketing bezahle die Rechnungen, aber SEO koste, zumindest erstmal. „Die herkömmlichen Vertriebskanäle sind anders ausgerichtet. Das bedeutet nicht, dass SEO nicht zeitnah einen ROI erreicht, aber es dauert definitiv länger und ist wesentlich schwerer. Doch langfristig ist das Potenzial umso erstaunlicher.“ Oder wie Niko Gabrielides, Director of Business Development bei BrainersHub, sagt: „SEO ist kein Quick Fix.“ – Suchmaschinenmarketing sei eben kein Hebel, den man nach Belieben anwerfen könne. Pharmaunternehmen müssten bei ihrer SEO-Strategie deutlich langfristiger denken.

■ Wie sichtbar sind Unternehmen?

Heddinga führt an, dass laut einer Studie von McKinsey Pharma-Unternehmen zum Großteil aller medizinischen Suchanfragen bei YouTube und Google überhaupt nicht unter den ersten zehn Ergebnissen zu finden seien. Eine Google-Suche der Redaktion (Stand 19.04.2023) mit dem Schlagwort „Durchfall“ bestätigte das Ergebnis. Auf Seite 1 war nur MSD als Pharmaunternehmen unter den organischen Suchergebnissen vertreten. Immerhin an Platz 4. Bei der Suche nach „Diabetes Typ 2“ schaffte es Astra Zeneca mit der Website zuckerkrank.de als Siebtplatzierter auf die erste Suchergebnisseite. Nach Heddingas Meinung unterschätzen Pharmaunternehmen das Potenzial der informativen Suchanfragen und setzen, wenn überhaupt, fast nur auf Keywords, die der Patient in der letzten Phase seiner Journey nutzt  – also alles, was mit dem Kauf eines konkreten Produkts zu tun hat. „Alles, was davor passiert, haben viele Unternehmen gar nicht im Blick, oder schrecken vor dem redaktionellen Aufwand zurück. Dabei werden genau in diesem Informationsprozess Unternehmen ins Relevant Set für die Kaufentscheidung aufgenommen.“ Zudem schlummere in allen online gestellten Suchanfragen zu diversen Krankheitsbildern ein Traffic-Potenzial von hohen fünfstelligen Besucherzahlen pro Monat. In einigen Fällen sogar sechsstellig. Trete man erst in der letzten Phase online in Erscheinung, sei es oft schon zu spät. Pharmaunternehmen sollten deshalb unbedingt aktiv und zu Ratgebern ihrer Zielgruppe werden, meint der Experte von nitschmahler&friends.

Auch Fabian Kaske, CEO der Kaske Group, kritisiert, dass Firmen zu wenig in diesen wertvollen Kanal investieren. Das hohe Potenzial in der Neukundengewinnung werde nur teilweise ausgeschöpft, auch von Firmen, die Firmen-SEM (Search Engine Marketing) als relevanten Baustein ihrer Marketingstrategie identifiziert hätten. Insbesondere in der Awareness-Phase werde noch zu viel auf klassische Kanäle wie TV gesetzt. „An digitale Initiativen wird ein überhöhter Maßstab angelegt. Während bei klassischen Maßnahmen wie Außendienst und TV akzeptiert wird, dass nur ein Bruchteil direkt und sofort messbar ist, wird von jeder Digitalmaßnahme verlangt, dass jeder Teilschritt auswertbar und ROI-positiv ab Start ist. Das erstickt viele aussichtsreiche Initiativen im Kern“, mahnt Kaske. Insgesamt könne Suchmaschinen-Marketing eine wichtige Rolle für Pharma- und MedTech-Unternehmen spielen, um ihre Zielgruppen effektiv zu erreichen und ihre Präsenz im Online-Bereich zu stärken. Nämlich in Sachen

  • Sichtbarkeit: SEM kann die Sichtbarkeit von Pharmaunternehmen und ihren Produkten erhöhen bei etablierten und neuen Zielgruppen,
  • Relevanz: Durch SEM erreichen Hersteller die Zielgruppe genau dann, wenn sie ein Problem haben, und
  • Compliance: Die Zusammenarbeit mit einer auf den Gesundheits- und Medizinbereich spezialisierten Agentur kann dazu beitragen, dass die Compliance- und Regulierungsanforderungen beachtet werden und das Risiko von Fehltritten im Bereich des Online-Marketings minimiert wird.


■ Mit Zielgruppenverständnis Relevanz schaffen

Bei Google als Suchmaschine spielen zahlreiche Faktoren bei der Frage eine Rolle, wie das Ranking der Ergebnisse zu einem bestimmten Suchbegriff aussieht. Wie diese Faktoren genau gewichtet werden, ist aber unbekannt. Befragt nach den wichtigsten Faktoren, die bei SEO zu Online-Angeboten unbedingt berücksichtigt werden sollten, erklärt Niko Gabrielides. „Hier gibt es ganz klar einen Schlüsselfaktor, der über allem steht – Relevanz!“, und er vertieft diesen bereits von Kaske thematisierten Aspekt: „Grundsätzlich optimiert Google die Rankings dahingehend, dass die Intension der Suchenden möglichst gut erfüllt wird, also wie relevant die Inhalte für die jeweilige Suchanfrage sind.“

 

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Das Fundament für Relevanz sei das Verständnis der Zielgruppe. Hierfür sollten Pharmaunternehmen nicht nur die Herausforderungen und Bedürfnisse im Detail verstehen, sondern gleichzeitig wissen, wie und mit welchen Inhalten sich diese am besten ansprechen lassen. „Ohne dieses Wissen laufen Unternehmen ein hohes Risiko, an der Zielgruppe vorbei zu kommunizieren und das Potenzial ihres Suchmaschinen-Marketings zu verschwenden. Um ein solches Verständnis aufzubauen, können sie enorm von einem Omnichannel-Ansatz profitieren, der auf die Verknüpfung der verschiedenen Vertriebs- und Marketingkanäle setzt“, führt Gabrielides weiter aus. Denn so ließen sich auch Daten und Erkenntnisse aus anderen Bereichen (z.B. Außendienst, Soziale Medien etc.) nutzen, um das Bild der Zielgruppe zu schärfen.

Als genauso wichtig wie das Verständnis für die Zielgruppe erachtet er aber auch die Umsetzung. Mit den Inhalten des Unternehmens klare Mehrwerte zu bieten, sei das Gebot der Stunde. Die Inhalte sollten daher passgenau auf die Bedürfnisse der Zielgruppe ausgerichtet sein und auch deutlich unter die Oberfläche dringen. „Denn die Konkurrenz ist groß. Hier reicht ,der gute alte’ 600-Wörter-Beitrag meist nicht mehr aus und auch allgemeine Informationsartikel gehen oft in der Menge des Angebots unter“, so der Director Business Development.

■ Backlinks als Indikator für Autorität und Glaubwürdigkeit

Als wesentlich effektiver erachtet er es, wenn Pharmaunternehmen sich darauf konzentrierten, spezifische Fragen der Zielgruppe gut recherchiert und leicht verdaulich zu beantworten. Als Ziel gibt er aus, weniger „den einen” Artikel zum Thema zu verfassen, also vielmehr ein Geflecht aus Beiträgen zu schaffen, die jeweils unterschiedliche Details beleuchten, um der Zielgruppe mehr Tiefe zu vermitteln. „Zu einem Thema können so schnell mehrere dutzend gezielte und untereinander verlinkte Beiträge nötig sein, um Ärzte oder Patienten an den verschiedenen Stationen ihrer Informationssuche mit spezifischen und hoch-relevanten Informationen abzuholen.“

Hierbei müsse es Ziel für das Unternehmen sein, sogenannte „Domain-Authority” zu schaffen, sprich eine Einstufung bei Google, dass Anbieter X eine relevante Quelle zum Thema Y ist, wodurch alle Beiträge einen „Boost” in ihrer Sichtbarkeit auf Google erhalten. Neben der Relevanz kämen noch viele technische Faktoren, wie Backlinks hinzu. Die hält auch Kaske für hoch-relevant: „Backlinks von anderen qualitativ hochwertigen Websites sind ein wichtiger Indikator für die Autorität und Glaubwürdigkeit einer Website. Eine SEO-Strategie sollte daher darauf abzielen, qualitativ hochwertige Backlinks zu generieren.

Darüber hinaus weist er auf den Stellenwert der technischen Website-Optimierung hin, die eine Website für Suchmaschinen leichter zugänglich macht. Dazu gehörten Aspekte wie eine klare Struktur, eine schnelle Ladezeit und eine optimierte Darstellung für mobile Geräte. Tunlichst vermeiden sollte man den maßlosen Gebrauch von Keywords, mit dem Ziel, das Ranking der Seite für diese Keywords zu verbessern (Keyword Stuffing) oder einen Verstoß gegen die Google-Richtlinien, z.B. durch die Verwendung von Black Hat SEO-Techniken – also Techniken, die nicht den Guidelines und Richtlinien der Suchmaschinen-Betreiber entsprechen.

Arne Heddinga will unbedingt noch ergänzt wissen: Ein entscheidendes Thema für sämtliche Websites, die sich in YMYL-Bereichen („Your Money or Your Life“) wie Medizin und Finanzen bewegen, sei E-A-T („Expertise“, „Authoritativeness“, „Trustworthiness“). „Grob zusammengefasst wird hier auf Basis verschiedenster Signale auf der eigenen Website – aber auf Basis von Signalen, die andere Websites einer Marke oder einem Produkt geben – ausgewertet, welche Expertise und Relevanz ein Unternehmen tatsächlich hat.“ Einige von vielen wichtigen Faktoren seien hier zum Beispiel Profile für Autoren und Medical Advisor. Man solle transparent angeben, wer einen Artikel geschrieben und wer ihn medizinisch geprüft hat. „Das ist absolute Grundanforderung.“ Weiterhin sollten auch Patienten-Inhalte mit Fußnoten und Primärquellen ausgestattet werden. Es gebe auch Siegel wie das afgis-Siegel, die wie eine Art TÜV für medizinische Online-Inhalte funktionierten.

■ SEO für Rx als besondere Herausforderung

Betrachtet man die beiden unterschiedlichen Zielgruppen von Pharmaunternehmen im Netz genauer, so ergeben sich Unterschiede für SEO. „Bei OTC-Themen sind Informationen für die Marktteilnehmer leichter zugänglich und die Ziele messbarer. Das macht es auf der einen Seite einfacher, auf der anderen ist das SEO umkämpfter“, erklärt Mario Kemenc, CEO & Consultant von Return Consulting. Der Erfolg in den Suchmaschinen hänge viel stärker davon ab, ob SEO auch in den anderen Marketing-Disziplinen stattfinde, die Website zum Beispiel mit starker User Experience überzeugt und die Marke eine Autorität ist; die Optimierung im kleinen wie Keyword-Einsatz, Linkstruktur und Code seien entscheidend. „Alles ist deutlich näher an klassischen SEO Best Practices.“
Bei Rx-Themen steige die Komplexität für Content und Informationsarchitektur. Es gelte noch schärfer, Anforderungen von Google, Gesetzgebung, Patienten, Healthcare Professionals und dann noch den eigenen Marketingzielen zu entsprechen. „Mit der steigenden Komplexität steigen aber auch mehr Anbieter aus, sodass sich Resultate oft leichter einstellen“, ergänzt Kemenc.

Healthcare Professionals wiederum suchten ganz anders als Laien und wollten auch anders angesprochen werden. Daher würde Kemenc im Rx-Bereich nicht mit einem „One size fits all“ ins Rennen gehen, sondern womöglich zwei Websites an den Start bringen: Eine „Disease-Website“ zur Kommunikation ans Laienpublikum und ein spezielles HCP-Portal. Sie könnten teils dieselben Suchwörter bedienen und über die Vorschau-Snippets signalisieren, für welche Zielgruppe sie stehen. Gabrielides greift das Problem mit den Informationen für Fachkreise ebenfalls auf und empfiehlt für die meistens hinter Login verborgenen und damit von der Suchmaschine nicht erfassten Inhalte: „Um diese Herausforderung zu lösen, empfehlen wir unseren Kunden grundsätzlich ihre Inhalte zu separieren und wirklich nur Inhalte hinter den Login zu legen, die ausschließlich von Fachkreisen gelesen werden dürfen.“ Auch sei es möglich, von medizinischen Inhalten eine „light Version“ zu erstellen.

Gabrielides: „In diesem Fall schreibt man beispielsweise einen Artikel über eine Therapie so, dass dieser frei zugänglich ist und von Google erfasst werden kann, benötigt allerdings den Login für bestimmte Teile des Artikels mit für Fachgruppen relevanten Details.“ Abschließend betont Arne Heddinga, dass SEO als Tool im Suchmaschinen-Marketing nur ein Baustein ist. „SEO kann tatsächlich auch allein für sehr viel Traffic sorgen. Jedoch ist das nicht die optimale Vorgehensweise.“ Für ihn ist zum Beidspiel Search Engine Advertising (SEA) ein weiterer Baustein. Doch „nicht nur SEO und SEA ergänzen sich, sondern auch SEO und Social Media oder klassische PR. Materialien verschiedener Kanäle lassen sich häufig auf den jeweils anderen Kanälen recyceln“. Ebenso seien die Erkenntnisse aus Social-Media-Analysen auch interessant für die Erstellung von neuen Inhalten, während die Themen- und Keyword-Analysen der SEO relevant für Social-Media-Kampagnen sein können. „Zudem ist es ja schlichtweg so, dass Inhalte, die organisch funktionieren, in den meisten Fällen auch für bezahlte Kampagnen gut funktionieren. Denn die Menschen hinter den Klicks sind ja dieselben. SEO isoliert zu betrachten, ist schlichtweg ineffizient und kann zudem zum Bottleneck in internen Redaktions- und Freigabeprozessen werden.“