Die Teillegalisierung von Cannabis zu Genusszwecken bedeutet auch, dass Cannabis nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft ist. Macht das für Sie das Geschäft mit Medizinalcannabis einfacher?
Til Nagel: Natürlich entfällt manches, wenn man es nicht mehr mit einem Betäubungsmittel zu tun hat. Das betrifft insbesondere das Thema Dokumentation. Es ist aber auch nicht so, wie es häufig in der Öffentlichkeit dargestellt wird, dass wir als Apotheke nun jede Menge Zeit sparen und das Geschäft mit Cannabisprodukten dadurch deutlich rentabler wird. Ich würde schätzen, dass wir vielleicht fünf Prozent des Gesamtaufwands einsparen – mehr nicht. 

Wird das Cannabis-Gesetz dazu führen, dass Vorbehalte von Ärzten gegenüber diesen Produkten abnehmen und sie diese häufiger verschreiben? Oder könnte es einen gegenteiligen Effekt geben, indem der nun erlaubte Freizeitkonsum das „Drogenimage“ verstärkt?
Dr. Roman Nagel: Ich denke nicht, dass sich am Verschreibungsverhalten viel ändern wird – jedenfalls nicht kurzfristig. Ärzte, die vom therapeutischen Nutzen überzeugt sind, haben es bereits als Betäubungsmittel verschrieben und werden das nun natürlich auch weiterhin tun. Und bei denen, die Vorbehalte haben, wird sich erst einmal auch nicht viel ändern. 

Im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses wurde unter anderem auch diskutiert, Cannabis zu Genusszwecken ebenfalls über Apotheken zu vertreiben. Wäre es aus Ihrer Sicht problematisch gewesen, wenn sich die „Freizeitkiffer“, um es mal flapsig auszudrücken, in der Apotheke mit Cannabis versorgt hätten? 
Dr. Roman Nagel: Für uns als Apotheke ist es normal, sowohl Patienten als auch Konsumenten zu bedienen. Wir hätten keine Vorbehalte gehabt. Im Gegenteil: Auf diese Weise wäre sichergestellt gewesen, dass auch in diesem Bereich nur Cannabis bester Qualität auf dem Markt gewesen wäre. Ich bezweifle, dass das nun der Fall sein wird.

Wo liegt aus Ihrer Sicht die Problematik bei der Lösung mit den Cannabis Social Clubs?
Dr. Giuseppe Gianni: Ich denke, dass die meisten bei diesem Thema überfordert sein werden. Standards wie die Good Agricultural Practice und die Good Manufacturing Practice müssen zwar nicht eingehalten werden, was für den Konsumenten mit einem Qualitätsrisiko verbunden sein kann, trotzdem ist der Anbau komplex und aufwändig und setzt ein großes Know-how voraus. Hinzu kommen die Kosten für die notwendige Infrastruktur, insbesondere Energie und Administration. Ich gehe davon aus, dass die Gestehungskosten höher sein werden als beim industriellen Anbau. Ich habe meine Zweifel, ob Konsumenten, die keine Möglichkeit haben, selbst die erlaubten drei Pflanzen anzubauen, dann nicht doch eher auf den Schwarzmarkt ausweichen. Und dort weiß man dann nicht, woher das Cannabis kommt und ob es möglicherweise verunreinigt oder manipuliert ist.

Til Nagel: Die Frage ist auch, ob jemand, der Cannabis mal ausprobieren möchte, dafür Mitglied in einem Club wird oder anfängt, selbst Cannabis zu pflanzen. Das wird wohl eher so ablaufen, wie es vor dem CanG auch schon der Fall war: Man fragt einen Freund, der einen Freund hat, der „jemanden“ kennt. Oder man sucht sich einen Arzt, der dem Thema aufgeschlossen gegenübersteht und einem ein Privatrezept ausstellt. Gerade im telemedizinischen Bereich gibt es diesbezüglich einige Möglichkeiten. Was für den Konsumenten zudem den Vorteil hat, dass das medizinische Cannabis nur etwa halb so viel kostet wie Schwarzmarkt-Cannabis, und das bei garantierter Qualität. 

Zurück zum Medizinalcannabis: Sollten die Hersteller nun, da Cannabis kein Betäubungsmittel mehr ist, ihre Kommunikation Richtung Fachkreise verändern, um die Entstigmatisierung weiter voranzutreiben?
Dr. Giuseppe Gianni: Zunächst ist zu sagen, dass die Hersteller, solange Cannabis ein Betäubungsmittel war, ihre Produkte im Grunde genommen außerhalb der Fachgruppen überhaupt nicht hätten bewerben oder nennen dürfen. Auch keine Erinnerungswerbung. Daran hat sich aber keiner gehalten. In den ersten zwei bis drei Jahren nach der Freigabe des Medizinalcannabis gab es eine regelrechte „Wildwest“-Kommunikation in diesem Markt. Es waren eben keine traditionellen Pharmaunternehmen mit medizinisch-wissenschaftlichem Ansatz, die da auf den Markt kamen, sondern Startups. Da das alle so praktiziert haben, wurde es aber nicht thematisiert – in der klassischen Pharmaindustrie hätte es Abmahnungen geregnet. Ab 2020 war dann eine Professionalisierung der Kommunikation zu beobachten, im Sinn von Indikationswerbung und Disease-Awareness-Maßnahmen, aber auch das juristisch grenzwertig, da es sich zum einen um einen Rohstoff und zum andern um ein Betäubungsmittel gehandelt hat.

Von außen betrachtet wirken Cannabisblüten, die einen identischen Wirkstoffgehalt haben, ziemlich austauschbar. Welche Rolle spielen Marken in diesem Markt? Verschreibt der Arzt eine bestimmte Menge an THC und CBD oder ein konkretes Produkt?
Dr. Roman Nagel: Vor dem ersten April wurde ein konkretes Produkt verschrieben, das wir als Apotheke auch nicht substituieren durften. Seit Cannabis kein Betäubungsmittel mehr ist, genügt die Bezeichnung „getrocknete Cannabisblüten“ sowie der THC/CBD-Gehalt, die Menge sowie die Dosierung. Trotz Markennennung kann ich als Apotheker nun substituieren – wenn der Patient zustimmt.

Dr. Giuseppe Gianni: Für die Hersteller bleibt trotz der theoretischen Substitutionsmöglichkeit die zentrale Frage, wie sie mit ihrem Produkt bzw. ihrer Marke auf das Rezept kommen. Angesichts der geringen Margen sind Außendienst-Kommunikation und große Awareness-Kampagnen bei dem aktuell zu erwartenden Streuverlust zu kostenintensiv. Daher konzentrieren sich die meisten Hersteller auf Key-Account-Kommunikation und nutzen ansonsten vorwiegend digitale Kanäle und Veranstaltungen zur Kommunikation mit den Fachkreisen, um ihre Produkte zu bewerben. Digitale Kanäle, insbesondere Social Media, bieten sich natürlich auch für eine Awareness-Kommunikation mit der Öffentlichkeit an – im Rahmen der Grenzen, die für verschreibungspflichtige Arzneimittel gelten.

Til Nagel: Wobei die Grenzen, was im Rx-Markt erlaubt ist, auch überschritten werden. Da viele Krankenkassen sehr restriktiv bei der Erstattung von Cannabis-Verordnungen sind und die Verschreibung deshalb häufig mittels Privatrezept erfolgt, erfreuen sich Preisvergleich-Plattformen für medizinisches Cannabis großer Beliebtheit – eigentlich ist so etwas aber für verschreibungspflichtige Arzneimittel verboten.

Wie wird sich der Markt weiterentwickeln?
Dr. Giuseppe Gianni: Das ist sehr schwer vorherzusagen – und das gilt für den medizinischen wie für den Konsumbereich. Es hängt von den Erfahrungen ab, die man nun im Rahmen der neuen Gesetzeslage macht. Und ein Regierungswechsel könnte natürlich zu gravierenden Änderungen führen.