Das in Frankfurt und Wien ansässige Zukunftsinstitut betreibt Zukunftsforschung und hat kürzlich zwölf solcher Megatrends identifiziert, die in den kommenden Jahren prägend werden. Jeder
Megatrend summiert wiederum diverse Untertrends und für das Thema Gesundheit konnte das Zukunftsinstitut zehn solcher Untertrends feststellen, die auch für die Pharmabranche sehr wichtig werden. Welche Trends sind das und wie können sich Pharmaunternehmen auf die zukünftigen Entwicklungen vorbereiten und ihr Marketing entsprechend anpassen?
Die Megatrendstudie des Zukunftsinstituts basiert neben der Datensammlung auf vielen verschiedenen Quellen wie wissenschaftlichen Artikeln, Berichten und Expertenmeinungen auf einer umfangreichen PWLG-Netzwerkanalyse (Politik-Wirtschaft-Legitimation-Gemeinschaft), die es ermöglicht, verdichtete Bündel an Veränderungsbewegungen, sogenannte Megatrendräume, zu identifizieren. Flankiert wurden diese Maßnahmen von Experteninterviews.
Herausgekommen ist ein Bericht, der zehn Trends ausmacht, die das Gesundheitswesen und alle daran beteiligten Akteure betreffen werden.
1. Digital Human Care: Patientenzentrierte und personalisierte Therapien rücken durch technologische Entwicklungen in den Fokus. Gleichzeitig werden die Prozesse im Gesundheitswesen optimiert. Digitale Gesundheitslösungen wie Telemedizin und innovative Geschäftsmodelle verbessern die Qualität und Effizienz der Behandlung. Voraussetzung dafür sind der Zugang zu Patientendaten und ein starkes Patient Empowerment. Pharmaunternehmen setzen bereits Konzepte um, die die digitale Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten fördern.
2. Integrated Care: Hierarchische und sektorale Grenzen im Gesundheitswesen werden aufgelöst, und die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird durch neue, digitale Prozesse und Strukturen gestärkt. Diese Entwicklung ist jedoch herausfordernd, da Führungsrollen neu definiert werden müssen. Anknüpfungspunkte zum Thema „New Work“ werden hier deutlich.
3. Care Quality: Mit neuen Therapiemöglichkeiten und Finanzierungskriterien müssen Politik, Krankenkassen und Industrie neue Erlös- und Kostenmodelle entwickeln. Die Frage, was für eine bestmögliche Patientenversorgung praktisch möglich ist, muss neu beantwortet werden, wobei Patienten- und Verbraucherschutzorganisationen eine entscheidende Rolle spielen können.
4. Smart Health Hubs: Die Gesundheitsversorgung wird lokaler und niederschwelliger. Digitale Hilfsmittel wie Wearables, Sensoren oder Augmented-Reality-Anwendungen können das Zuhause zu einem Health Hub machen, was die Prävention und das Disease-Management im privaten Umfeld erleichtert. Für die Pharmaindustrie bieten sich hier neue Kooperations- und Geschäftsmodelle.
5. Advanced Nursing: Innovative Modelle und digitale Technologien erweitern die Kompetenzen des Pflegepersonals und können die Arbeitsbedingungen verbessern. Das Pflegepersonal wird zu einer wichtigen Zielgruppe für die Pharmaindustrie.
6. Enabled Prevention: Digitale Werkzeuge befähigen Menschen und Gemeinschaften, ihre Gesundheit aktiv zu schützen und zu fördern. Der Wandel von der Therapie hin zur Prävention gewinnt an Dynamik und eröffnet der Pharmaindustrie neue Geschäftsmodelle. Gamification-Elemente werden dabei immer wichtiger, denn sie eröffnen einen spielerischen Zugang zu Gesundheitsthemen.
7. Health Tech Integration: Innovative Medizintechnik und Künstliche Intelligenz werden in alle Ebenen der Gesundheitsversorgung integriert, was die Präzision, Effizienz und Personalisierung der Versorgung erhöht. Die Herausforderung besteht darin, diese Prozesse sinnvoll zu orchestrieren.
8. Mental Health Awareness: Die psychische Gesundheit rückt immer mehr in den Mittelpunkt. Diese Entwicklung spiegelt das Bestreben, Stigmatisierungen abzubauen und besseren Zugang zu psychischen Gesundheitsdiensten zu schaffen. Davon wird auch das Thema „Employer Branding“ beeinflusst, weil Pharmaunternehmen, die sich um das Wohl ihrer Mitarbeitenden kümmern, eine Vorreiterrolle einnehmen können.
9. Public Health Proactivity: Mit der Befähigung der Menschen, ihre Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen, wird auch die Politik von einer reaktiven zu einer proaktiven Gesundheitspolitik übergehen, was den Gesundheitssektor für alle Akteure verändert.
10. One Health: Gesundheit wird als universeller Begriff verstanden, der ökonomische, ökologische und soziale Dimensionen umfasst. Themen wie Nachhaltigkeit, Umweltschutz und Klimawandel spielen hier eine wichtige Rolle. Pharmaunternehmen können sich als Vorreiter für eine gesunde Lebenswelt engagieren und viele tun dies bereits.
■ Konsequenzen für das Pharmamarketing
Die vorausgesagten Entwicklungen werden auf vielfältigen Ebenen ihre Wirkung entfalten und man könnte meinen, dass das Pharmamarketing nicht direkt betroffen ist. Das ist ein Trugschluss, denn die veränderten Bedingungen nötigen die Pharmaunternehmen dazu, ihr Marketing anzupassen – und das am besten frühzeitig.
Dazu passen unterschiedliche Maßnahmen:
- Der Trend zur „Digital Human Care“ und die verstärkte Nutzung individueller Patientendaten erfordern, dass Pharmamarketingkampagnen stärker personalisiert werden. Produkte und Dienstleistungen müssen auf spezifische Patientenbedürfnisse zugeschnitten und entsprechend beworben werden.
- Mit „Integrated Care“ müssen Pharmamarketingstrategien darauf abzielen, unterschiedliche medizinische Fachbereiche anzusprechen und die Bedeutung integrierter Versorgung zu betonen. Dies könnte durch die Förderung von Kooperationen und Schulungen für medizinisches Fachpersonal geschehen.
- Der „Advanced Nursing“-Trend bedeutet, dass Pflegekräfte zunehmend eine Schlüsselrolle in der Medikamentenverordnung und -verwaltung spielen. Pharmaunternehmen könnten gezielte Schulungsprogramme und Informationskampagnen für Pflegekräfte entwickeln.
- Mit der steigenden „Mental Health Awareness“ sollten Pharmamarketingkampagnen stärker auf psychische Gesundheit eingehen, die Entstigmatisierung unterstützen und innovative Therapien bewerben.
- Der Trend „Enabled Prevention“ fordert eine stärkere Fokussierung auf präventive Maßnahmen in der Werbung. Pharmaunternehmen könnten Produkte und Dienstleistungen hervorheben, die präventive Gesundheitsmaßnahmen unterstützen.
- Mit „Health Tech Integration“ sollten Marketingstrategien den Einsatz moderner Technologien hervorheben und wie diese zu einer verbesserten Patientenversorgung beitragen können. Dies könnte auch die Zusammenarbeit mit Technologieunternehmen beinhalten.
■ Fazit
Die Pharmabranche scheint gut auf die kommenden Trends im Gesundheitswesen vorbereitet zu sein. Viele Unternehmen sind bereits in relevanten Bereichen wie Nachhaltigkeit, Mental Health und Prävention aktiv. Das Potenzial digitaler Technologien wird erkannt, und neue Erlösmodelle werden diskutiert. Die zehn identifizierten Untertrends verdeutlichen zudem, wie technologische Innovationen, neue Versorgungsmodelle und ein stärkeres Bewusstsein für psychische und präventive Gesundheit das gesamte System transformieren. Für Pharmaunternehmen bedeutet dies, dass sie ihre Marketingstrategien anpassen müssen, um den veränderten Bedürfnissen gerecht zu werden. Dabei spielt die Personalisierung von Angeboten, die interdisziplinäre Zusammenarbeit und die Fokussierung auf präventive Maßnahmen eine zentrale Rolle. Unternehmen, die diese Trends frühzeitig erkennen und umsetzen, werden sich einen Wettbewerbsvorteil sichern können.
INTERVIEW
Herr Dr. Matusiewicz, welche der zehn Trends halten Sie für die bedeutendsten Herausforderungen für die Pharmabranche in den nächsten fünf bis zehn Jahren, und warum?
David Matusiewicz: Der Trend „Enabled Prevention“ ist Chance und Herausforderung zugleich und beeinflusst das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie. Derzeit steht die Kuration im Vordergrund und jetzt rückt die Prävention immer mehr in den Mittelpunkt. Ein Beispiel sind die Digital Therapeutics (DTX), die heute schon Arzneimittel ersetzen können.
Wie bewerten Sie die Bereitschaft der Pharmaunternehmen, sich auf die identifizierten Megatrends einzustellen, insbesondere in Bereichen wie „Digital Human Care“ und „Health Tech Integration“?
David Matusiewicz: Der Trend „Digital Human Care“ verdeutlicht die Entwicklung hin zu einer digitalen individuellen ganzheitlichen Medizin. Der Trend „Health Tech Integration“ implementiert Medizintechnik und Künstliche Intelligenz. Die proaktive Bereitschaft der Pharmaindustrie sich auf diese beiden Trends einzustellen, liegt in der Transformation des Geschäftsmodells und auch in den Möglichkeiten, die sich dadurch ergeben. Durch Technologie wird die Diagnostik personalisiert, Krankheiten können früher erkannt und damit auch behandelt werden.
Können Sie Beispiele nennen, wie Pharmaunternehmen bereits heute auf die Megatrends „Enabled Prevention“ und „One Health“ reagieren?
David Matusiewicz: Sicher. Beim Megatrend „Enabled Prevention“ geht es beispielsweise um Impfstoffe oder Medikamente zur Risikoreduktion, wie es derzeit auch die Diskussion um das jüngst verabschiedete Gesundes-Herz-Gesetz (GHG) zeigt. Bei „One Health“ geht es um die Ausweitung des Gesundheitsverständnisses und die Anerkennung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen von Gesundheit. Auch hier wird bereits viel gemacht in Richtung umweltfreundliche Produktion, nachhaltige Verpackung, ethische Forschung und Entwicklung, verbesserter Zugang zu Medikamenten bis hin zu Kostenersparnissen durch Innovation.
Wie können Unternehmen die richtige Balance zwischen technologischer Innovation und ethischen Überlegungen, insbesondere im Bereich der „Health Tech Integration“, finden?
David Matusiewicz: Unternehmen können diese Balance sicherstellen, indem sie klare ethische Leitlinien leben, interdisziplinäre Ethikkomitees einrichten und Transparenz in ihren Prozessen gewährleisten. Regelmäßige Bewertungen der sozialen Auswirkungen, die Einbeziehung von Patientenrechten sowie der Schutz von sensiblen Daten sind entscheidend. Zudem sollten Unternehmen aktiv den Dialog mit regulatorischen Behörden, medizinischen Fachkräften und der Öffentlichkeit suchen um sicherzustellen, dass Innovationen sowohl sicher als auch gesellschaftlich verantwortungsvoll sind.
Sehen Sie in der zunehmenden „Mental Health Awareness“ und der damit verbundenen Arbeitgeberverantwortung eine Chance oder eine Herausforderung für Pharmaunternehmen?
David Matusiewicz: Sowohl als auch. Auf der einen Seite eröffnet sich ein wachsender Markt, da die steigende Sensibilisierung für psychische Gesundheit eine erhöhte Nachfrage nach innovativen Medikamenten und Therapien mit sich bringt. Pharmaunternehmen können diese Gelegenheit nutzen, um neue Produkte zu entwickeln und bestehende Behandlungen zu verbessern. Hier hat sich in den letzten Jahren meines Erachtens zu wenig getan. Es gibt immer noch die gleichen Arzneimittel wie vor Jahrzehnten mit dem gleichen Prozess des Ausprobierens, bis das richtige Medikament gefunden wird – und das kostet zu viel Zeit für Patienten als auch den Arbeitgeber. Pharmaunternehmen stehen vor der Herausforderung, ihre ethische Verantwortung ernst zu nehmen. Es gilt sicherzustellen, dass Produkte auf das Wohl der Patienten ausgerichtet sind. Zudem müssen die Erwartungen an wirksame, evidenzbasierte und nebenwirkungsarme Behandlungen für psychische Erkrankungen erfüllt werden, was ständige Innovation und intensive Forschung erfordert. Insgesamt bietet die steigende Aufmerksamkeit für psychische Gesundheit großes Potenzial, erfordert jedoch ein verantwortungsvolles und nachhaltiges Vorgehen seitens der Pharmaindustrie.
Prof. Dr. David Matusiewicz ist Experte Digitale Gesundheit beim Zukunftsinstitut.
Quelle: DXM