Frau Mertz, könnten Sie bitte zunächst erklären, was Sie als Psychologin unter kognitiven Verzerrungen verstehen?
Alexandra Mertz: Wenn wir Menschen Urteile fällen oder Entscheidungen treffen, verwendet unser Gehirn Heuristiken – mentale Abkürzungen, die auf Erfahrungen basieren und uns helfen, schnell und effizient Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen. Heuristiken können allerdings auch zu kognitiven Verzerrungen führen. Diese Fehler sind aber systematisch und damit auch vorhersehbar. 
Ein einfaches Beispiel: Wenn ich mir ein rotes Auto gekauft habe, habe ich plötzlich den Eindruck, alle Welt führe rote Autos. Die sind aber natürlich nicht zahlreicher geworden, sondern mein Gehirn ist nun darauf gepolt, rote Autos zu sehen. Das wirkt sich auch auf Wahrscheinlichkeitsschätzungen aus: Wäre ich vor dem Autokauf gebeten worden zu schätzen, wie viele rote Autos es gibt, hätte ich vielleicht 5 Prozent gesagt, nach dem Kauf wäre meine Schätzung sicherlich deutlich höher ausgefallen. Näher an der Realität wäre aber meine erste Schätzung gewesen. 

Inwiefern sind kognitive Verzerrungen bedeutsam, wenn man sich damit beschäftigt, wie man effektiv mit Ärzten kommuniziert?
Kognitive Verzerrungen wirken sich auch auf die Informationssynthese aus. Also darauf, wie ich aus einem Text Informationen herausfiltere, wie ich sie wahrnehme und wie ich sie verarbeite. Wahrscheinlichkeitsschätzung und Informationssynthese sind Skills, die in der medizinischen Praxis sehr relevant sind. Ärzte sind Menschen, und ihnen passieren die gleichen Fehler wie allen anderen. 
Wobei ich gar nicht so gerne von „Fehlern“ spreche, denn es geht um natürliche Prozesse des menschlichen Gehirns. Ohne Heuristiken – oder auch Biases – würde unser Gehirn so viel Energie verbrauchen, dass wir nicht überlebensfähig wären. 

In Ihrer Arbeit geht es darum, kognitive Verzerrungen in der Fachkommunikation zu berücksichtigen. Wie genau funktioniert das?
Ich möchte zunächst eines klarstellen: Wenn man kognitive Verzerrungen adressiert, dann ist das keine Manipulation – was gerne mal unterstellt wird. Es geht nicht darum, Fehler oder Unzulänglichkeiten auszunutzen, sondern darum, Kommunikation auf eine natürliche Art des Entscheidens zu adaptieren. Die Wissenschaft geht von 160 bis 180 Biases aus, für die Kommunikation mit Ärzten sind aber nur rund 20 besonders relevant, weil sie gut belegt sind und weil wir in der Marketingkommunikation gut damit arbeiten können. 

Nennen Sie bitte mal Beispiele.
Fangen wir mit dem „Loss Gain Framing“ an. Ich kann in Bezug auf eine Therapie „verhindert das Fortschreiten der Erkrankung“ oder „verbessert die Lebensqualität“ kommunizieren. Das erste ist „Loss“, das zweite „Gain“. Studien zeigen, dass das „Loss Framing“ deutlich stärker wirkt, der Arzt sich dann also eher für diese Therapie oder dieses Produkt entscheidet. Was daran liegt, dass wir Menschen evolutionär eher darauf gepolt sind, Verluste zu vermeiden, als Gewinne anzustreben. Für den Steinzeitmenschen war es eben wichtiger, seine Ressourcen – oder vielleicht sogar das eigene Leben – nicht zu verlieren, als einen Apfel mehr pflücken zu können.

Das ist sehr interessant, denn ich habe den Eindruck, dass sehr häufig mit der positiven Formulierung gearbeitet wird.
Das ist tatsächlich so. Die Meinung, dass man möglichst alles positiv formulieren sollte, weil Negatives schlecht ist und sich dann entsprechend auf die eigene Marke auswirkt, ist sehr verbreitet. Das stimmt aber nicht.

Welche anderen kognitiven Verzerrungen sind in der HCP-Kommunikation relevant?
Ich finde die Relative-Risk-Verzerrung spannend. Wenn man sagt, ein bestimmtes Risiko sinkt von 4 auf 2 Prozent, dann klingt das nicht besonders spektakulär. Wenn man aber sagt, das Risiko reduziert sich um 50 Prozent, ist das schon sehr viel beeindruckender. Das ist übrigens ein typischer Fall, in dem manche den Vorwurf der Manipulation erheben. Dabei geht es nur darum zu verhindern, dass der Arzt unterschätzt, was die Risikoreduktion von 4 auf 2 Prozent tatsächlich bedeutet.

In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich etwas über den „Omission Bias“ gelesen. Könnten Sie diesen auch erklären?
Beim „Omission Bias“ geht es darum, dass Menschen Schäden durch aktives Handeln als schwerer einschätzen als Schäden durch Nicht-Handeln. Genau darum gibt es zum Beispiel immer wieder Kampagnen zur Laien-Reanimation. Wenn neben ihnen jemand umkippt, tun die meisten Menschen lieber nichts, und zwar aus Angst, dem Betroffenen noch mehr zu schaden. Dabei kann es für jemanden, der einen Herzstillstand hat, kaum noch schlimmer werden.
In der Fachkommunikation ist dieser Bias relevant, wenn es darum geht, eine neue Therapie zu etablieren. Auch ein Healthcare Professional handelt lieber nicht und bleibt beim vertrauten Standard, als etwas Neues auszuprobieren. Er fürchtet das Risiko, aber er geht auch ein – möglicherweise größeres – Risiko ein, wenn er die neue Therapie nicht ausprobiert. 

Was kann man als Hersteller oder Agentur tun, damit Ärzte in dieser Hinsicht „risikofreudiger“ werden?
Nicht nur beim Omission Bias, sondern grundsätzlich hilft es sicherlich, immer wieder zu vermitteln, dass es solche Biases gibt, damit sich die HCP dessen bewusst sind.
Und es hilft, die Selbstwirksamkeit von Ärzten zu stärken. Jeder Mensch zweifelt an sich, auch Mediziner. Ihr Vertrauen in die eigene Kompetenz und die eigene Fähigkeit zu stärken, Entscheidungen für eine Therapie trotz potenzieller Hürden zu treffen, ist schon hilfreich.

Gibt es noch einen weiteren Bias, den Sie erklären möchten?
Der „Availability Bias“ ist sicherlich der am besten erforschte. Dinge, die kurz vorher präsent waren, können leichter in Erinnerung gerufen werden und werden dadurch als wahrscheinlicher angenommen. Kommt beispielsweise jemand in die Praxis, der ständig müde ist, und der Arzt hatte vorher einen Patienten mit Multipler Sklerose, dann neigt er eher dazu, auf MS zu untersuchen, obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass Müdigkeit gleich MS ist, ziemlich gering ist.
Der Availability Bias spielt stark in das Funnel-Denken des Marketings hinein, das darauf abzielt, dass man Awareness für seine Marke schafft und dadurch mental verfügbar beim HCP ist. Wenn es mir gelingt, dem HCP zu den besten Zeitpunkten und über die passenden Kanäle Informationen über mein Produkt anzubieten, dann wird es wesentlich wahrscheinlicher, dass er es auch verschreibt – weil es in seinem Kopf available ist. 

Leider können wir hier nicht auf alle kognitiven Verzerrungen eingehen, die in der HCP-Kommunikation besonders relevant sind. Hätten Sie noch ein, zwei Tipps?
Worauf ich selbst immer sehr achte, ist der Primacy-Recency-Effekt. Informationen, die am Anfang oder ganz am Schluss stehen, werden besser erinnert. Die Kernbotschaft, die eine Marke vermitteln will, sollte immer am Anfang erscheinen, weil so die Chance, dass sie ins Langzeitgedächtnis übergeht, deutlich größer ist. Und am Schluss sollte sie nochmal wiederholt werden.
Oder nehmen wir noch den „Bandwaggon-Effekt“: Menschen orientieren sich daran, was die Mehrheit macht. Die Botschaft „Zwei Drittel der Fachärzt:innen setzen bereits auf Produkt X“ liefert einen Social Proof. Es geht aber nicht unbedingt nur um Quantität – auch ein Vorbild im Sinn eines Key Opinion Leaders kann einen Social Proof liefern.
Der „Confirmation Bias“ führt dazu, dass man sich stärker an Informationen erinnert, die die eigene Überzeugung bestätigen – oder man interpretiert Informationen sogar in diese Richtung. Wenn ein Arzt eine Therapie nutzt und von dieser überzeugt ist, kann es sein, dass er Informationen über eine neue Therapie negativ interpretiert, um die eigene Meinung zu bestätigen. Es empfiehlt sich daher, immer da anzuknüpfen, wo der HCP gerade steht – also ein Produkt Step by Step zu etablieren und nicht zu sagen „Die alte Therapie ist Mist, wir haben etwas total Neues und Innovatives. Vergiss daher alles, was bisher war“. Das funktioniert nicht.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Mertz.