Das gesamte Thema Digitalisierung im Bereich Pharma und Rx-Marketing ist für Tino Niggemeier, Geschäftsführer der Agentur xeomed, heute ein ganz anderes als noch vor drei Jahren. Durch die Rahmenbedingungen, die insbesondere Corona als Beschleuniger geschaffen habe, würden die Chancen und Möglichkeiten, die schon seit Jahren bestehen, jetzt genutzt. Allerdings gibt es seiner Meinung nach noch Luft nach oben: „Rx-Marketing muss stärker aus den Bedürfnissen und dem Verhalten der Zielgruppe heraus gedacht, konzipiert und realisiert werden. Die heutigen Maßnahmen sind noch zu sehr aus einer internen Betrachtungsweise und aus der Industrieperspektive konzipiert“, findet Niggemeier.

Die Pandemie habe die Menschen zur Distanz gezwungen, in allen Bereichen und Lebenslagen, was auch zu einem technologischen Schub geführt habe, stellt Nils Fortmann fest. Denn alles, was diese Distanz verringern oder angenehmer gestalten konnte, habe Aufmerksamkeit und Zulauf erfahren. Um die neuen Wege und Werkzeuge im Rx-Marketing effektiv anzuwenden, hätten sie sinnvoll miteinander verknüpft und in ein positives Nutzererlebnis übertragen werden müssen. „Omnichanneling und Customer Journey sind wichtige Stichworte, hier kann sich das Rx-Marketing immer noch viel von den Consumer- und Lifestyle-Brands abschauen“, betont der Geschäftsführer von antwerpes healthy media. Außerdem gehe es auch hier um eine möglichst persönliche, individualisierte Gestaltung. „Auch ein Arzt möchte innerhalb seiner individuellen Bedarfslage bestens betreut und informiert werden und hat zudem Spaß an Interaktion und neuen Erlebnissen.“ So richtig spannend werde es aber erst jetzt, da der persönliche Kontakt wieder möglich ist. „Integrierte Kampagnen, in denen sich digitale und analoge Maßnahmen und Angebote clever miteinander ergänzen, sind in meinen Augen die Zukunft, auch im Rx-Marketing“, so Nils Fortmann.

Für Kerstin Dehn, Vice President Commercial & Strategy DACH beim Ärztenetzwerk coliquio, haben die „massiven“ Weiterentwicklungen in der technologischen und Daten-Infrastruktur weitreichende Veränderungen in Marketing und Sales angestoßen. Es komme vor allem darauf an, die entsprechenden Skills zu beherrschen, um Kundenbeziehungen kanalunabhängig auf- und auszubauen. Außerdem seien neue Contentprozesse nötig, um den Kanal-Mix optimal zu bedienen und auszusteuern. „Da ist es umso wichtiger, die Bedürfnisse der Ärzt:innen in den Mittelpunkt aller Aktivitäten zu stellen!“, erläutert Kerstin Dehn.

Der neue Head of Strategy der Agentur cyperfection, Andreas Kotte, sagt, die Pandemie habe die Ärzte „zwangs-digitalisiert“. Sie sei ein Beschleuniger der Digitalisierung im Pharmabereich, aber der bevorstehende Generationswechsel innerhalb der HCPs werde das Mediennutzungsverhalten noch weiter digitalisieren und teilweise grundlegend verändern. Das Rx-Marketing müsse die platte Produkt-Kommunikation schneller hinter sich lassen und die Bedürfnisse und Interessen des HCP in den Mittelpunkt stellen. „Das Ziel muss sein, den Vertriebs- und Marketingprozess, aber auch jeden einzelnen Touchpoint individuell auf die Bedürfnisse der jeweiligen Facharztgruppe auszurichten und zu verbinden“, so Kotte. Mit kreativen Businesslösungen, die die relevanten Herausforderungen und Themen des jeweiligen HCP aufgreifen und mit jeder Interaktion einen echten Mehrwert schaffen, lasse sich das Engagement der Ärzte und deren Vertrauen kontinuierlich steigern. Diese Art von Kommunikation benötige aufseiten der Pharmaindustrie neue digitale Tools, die mittlerweile aber auch in dieser Branche immer häufiger implementiert würden.

„Technologisch ist im Rx-Marketingbereich gefühlt nicht so wahnsinnig viel passiert. Die größten technologischen Entwicklungen, zum Beispiel im Bereich der künstlichen Intelligenz, sind dort noch nicht angekommen“, sagt der Geschäftsführer des Ärztenetzwerks esanum, Tom Renneberg. Dennoch habe Pharma nun einiges aufgeholt. Die Industrie habe realisiert, dass digitales Marketing ihre volle Aufmerksamkeit verdient und dass es dafür Spezialist:innen braucht. „Die Unternehmen haben es zum Teil teuer bezahlen müssen, digitale Kanäle zu besetzen, und sie haben – völlig richtig – gemerkt, dass sie auch eigene Kanäle brauchen.“ Allerdings sieht er darin eine große Herausforderung: „Eigene Kanäle nachhaltig aufbauen, das braucht guten, regelmäßigen, zielgerichteten, aber auch abwechslungsreichen Content, ein perfekt austariertes CRM, um den Content rauszupushen, und am besten auch eine schicke Plattform, die den ganzen Content hostet. Am besten noch eine Marke, die neutral anmutet, und dahinter ein gutes Team. Das hat man nicht mal eben auf die Beine gestellt, während man auch noch mit ausgefallenen Kongressen, Fortbildungsplattform und einem gegroundeten Außendienst umgehen muss“, resümiert Tom Renneberg.

Die Zielsetzung ist entscheidend

Daten zu gewinnen und sie zu analysieren ist das eine, aber erst sie zu verstehen, ermöglicht es, aus ihnen strategisch sinnvolle Marketing- und Kommunikationsmaßnahmen abzuleiten. Erfolgreiche Marketingstrategien würden immer auf einer soliden Datenbasis gründen, betont Kerstin Dehn, und mit der Erweiterung der Analyse-Möglichkeiten und dem Zugriff auf Live-Daten ergäben sich viele neue Chancen, um noch zielgruppenspezifischer und aktueller zu kommunizieren. Allerdings sollte man nicht nur die eigenen Maßnahmen und Inhalte analysieren, sondern sich ein holistisches Bild von der Zielgruppe machen. „Das heißt, eigene Daten sollten gezielt ergänzt werden, um eine neutrale Perspektive zu bekommen“, erläutert Kerstin Dehn.

„Die erste Herausforderung, mit Consent-Management, DSGVO-Konformität und Cookie-Abfrage die Daten überhaupt erst einmal zu erheben und zu speichern, kriegen die meisten noch hin. Die eigentliche Herausforderung ist aber, mit den ganzen Daten, die man fröhlich gesammelt hat, auch etwas Sinnvolles anzufangen“, findet Tom Renneberg. Es gehe darum, die Daten zu nutzen, um die Kommunikationsmaßnahmen anzupassen, sie auszutarieren, zu verbessern und zu verstärken, wo es möglich ist, und abzuschwächen, wo es nötig ist. „Die Daten werden auch genutzt, um den Content selbst zu verbessern. Direktes Feedback ist schonungslos, aber vor allen Dingen hilfreich“, betont der esanum-CEO. Analysten seien deshalb gefragter denn je. Es brauche Fachleute, die aus der Datenflut den Datenmüll herausfiltern und einfach zu verstehende, aussagekräftige Learnings extrahieren. Aber auch künstliche Intelligenz könne hier schon gut unterstützen. „Die KI der esanum-Plattform und auch unser CRM lernt faktisch mit jedem Klick und jeder Newsletter-Öffnung dazu, welcher Content gut läuft in welchem Cluster, bei welcher Zielgruppe, zu welcher Tageszeit, über welchen Kanal, gepaart mit welchem anderen Content. Das kann ein Mensch in dieser Kleinteiligkeit schon gar nicht mehr leisten.“

Eine Datenstrategie, die nicht den Fokus auf das Sammeln legt, wäre für Andreas Kotte ein guter Einstieg in das Thema. Denn nur durch Sammeln und Horten ließen sich weder Services verbessern noch Verschreibungen oder Verkäufe steigern. „Wir müssen von dem Irrglauben wegkommen, dass man an jeder möglichen Stelle Daten generieren und speichern muss, bevor überhaupt eine Strategie zur Weiterverarbeitung existiert.“ Denn die notwendige Infrastruktur verursache enorme Kosten, während manche Daten mit der Zeit sogar an Wert verlören. „Daten allein erzielen keinen Mehrwert, sie benötigen einen Katalysator im Wertschöpfungsprozess. Vor dem Sammeln und der Analyse muss zuerst definiert werden, welchen Mehrwert man prinzipiell generieren möchte – und wie Daten einem dabei helfen könnten“, gibt Kotte zu bedenken.

Auch Nils Fortmann sagt, in der Datenanalyse sei die Zielsetzung entscheidend: Daten sollten immer im Hinblick auf konkrete Fragestellungen erfasst und analysiert werden. Wann ist eine Website oder Kampagne erfolgreich, wie definiere ich diesen Erfolg und welche KPIs zahlen darauf ein? „Dabei sollten Daten aber nie isoliert betrachtet werden“, betont er. Eine hohe Absprungrate werde beispielsweise häufig negativ gesehen, vielleicht verrate sie einem aber, dass der User alle benötigten Informationen bereits auf der ersten Seite gefunden hat. Und eine Kampagne, die Awareness schaffen soll, müsse anders aufgesetzt werden und performen, als eine rein auf Conversions orientierte. „Mithilfe von Datenanalyse haben wir die Chance unser Marketeer-Bauchgefühl, das sicher seine Relevanz hat, zu bestätigen oder eben nicht“, so Fortmann. Marketingentscheidungen könnten so fundierter bewertet werden – Daten machten Erfolge messbar und schüfen eine Entscheidungsgrundlage, die über Meinung oder Geschmacksfragen hinausgeht. Die Expertise, aber auch das Interesse und die Begeisterungsfähigkeit seien beim Thema Daten allerdings noch sehr unterschiedlich ausgeprägt. „Die Notwendigkeit, datengetriebene Ansätze zu vermitteln, stellt eine zusätzliche Herausforderung dar. Mithilfe von Dashboards, eingängigen Visualisierungen und vor allem der Erfolge, die man auf Basis kontinuierlicher Optimierungen feiern kann, konnten wir aber schon den ein oder anderen ‚Datenverweigerer‘ zum ‚Datenfan‘ machen.“

Bei den erhobenen Daten benötige es zunächst mehr Klarheit darüber, welche Fakten überhaupt relevant sind, stellt Tino Niggemeier fest. Angesichts einer „regelrechten Datenflut“ im digitalen Marketing brauche es eine klare Priorisierung, welche Daten an welcher Stelle entscheidend sind, um diese auch dementsprechend interpretieren zu können. Zudem würden überwiegend quantitative Daten betrachtet und ausgewertet, wie beispielsweise Fragen nach der Reichweite: Wie viele Menschen waren auf der Website? Wie viele Klicks oder Impressions wurden generiert? „Hier fehlt die qualitative Sichtweise komplett und wird aktuell noch zu wenig umgesetzt. Jedoch liegt genau hier das Potenzial für die zukünftige Steuerung des Marketings.“ Das bedeute, nicht nur darauf zu achten, wie viele Besucher erreicht wurden, sondern auch deren Verhalten zu beobachten: Was haben die Nutzer wie lang gelesen? Über was haben sie sich informiert? Welches Material haben sie heruntergeladen? Konnte ich sie von meiner Botschaft überzeugen? „Die qualitative Betrachtung ist der nächste Schritt, der im Marketing gegangen werden muss“, so Niggemeier.

Relevante Inhalte erleichtern das Generieren von Insights

Die sogenannten Third-Party-Cookies sollen in Zukunft verschwinden, das heißt die Möglichkeiten für Unternehmen, Daten über ihre Zielgruppen zu gewinnen, werden eingeschränkt. Was bedeutet das für das Marketing? Und welche Voraussetzungen muss man schaffen, damit Ärzt:innen überhaupt bereit sind, sie betreffende Daten zu teilen?

„Die Genauigkeit und Detailtiefe von Profilen, die durch Third-Party-Cookies erstellt und angereichert wurden, fand ich schon immer sehr beeindruckend und auch etwas beängstigend“, sagt Tom Renneberg. Daher findet er es richtig, dass das in dieser Form in Zukunft nicht mehr ganz so einfach möglich ist – zumindest nicht über Plattformgrenzen hinweg. Innerhalb einer Plattform dürfe und könne man nämlich weiterhin wertvolle Insights generieren – „natürlich mit ausdrücklicher Zustimmung des Nutzers!“ Im Prinzip schlage mit der Abschaffung der Third-Party-Cookies die Stunde der unabhängigen Plattformen: Die User wollten ja umfassende Informationen zu den Themen, die sie interessieren. Eine Plattform wie esanum biete Nutzer:innen ein sehr breites Spektrum an Informationen aus der Industrie. Durch kontinuierliche Analyse des Klickverhaltens und der Bewegungen auf der Plattform könne man Insights generieren, um personalisierte Inhalte zu erstellen oder nach vorne zu holen und den Usern das auszuspielen, was wirklich relevant für sie ist. „Unter dieser Voraussetzung sind unsere User dann auch mehr als bereit, großzügig ihre Zustimmung zu einem Plattforminternen-Tracking ‚zur Verbesserung des Nutzererlebnisses‘ zu geben“, so Renneberg.

„User gewinnen zunehmend die Hoheit über ihre Daten zurück, das ist grundsätzlich eine positive Entwicklung“, findet Kerstin Dehn. Geschäftsmodelle, die auf Überwachung basieren, würden es schwerer haben, es komme also mehr denn je auf Mehrwerte und Relevanz an. Mediziner:innen wollten Zugang zu wissenschaftlichen und relevanten Inhalten, und wer die anbiete, dürfte ihrer Meinung nach weniger Probleme haben, einen Opt-In zu erhalten. coliquio sei diesbezüglich im Vorteil, da es sich um eine geschlossene Community nur für approbierte Mediziner:innen handelt, bei der sich die User anmelden müssen. „Daher können wir leichter nachvollziehen, wer sich auf der Plattform bewegt und welche Themen für bestimmte Fachgebiete und bestimmte Usertypen besonders attraktiv sind.“

Nach Meinung von Tino Niggemeier hat es Cookies weder in der Vergangenheit gebraucht, noch werden sie heute benötigt, um ein gutes digitales Marketing umzusetzen. „Daher ist der Verlust der Third-Party-Cookies für uns kein Schaden, sondern dürfte sogar helfen, das Marketing auf ein qualitativ besseres Level zu heben.“ Damit Ärzt:innen dazu bereit seien, sie betreffende Daten zu teilen, benötige es passende Angebote für die Fragen und Bedürfnisse der Zielgruppe. „Das bedeutet konkret: Steht das Informationsangebot der Zielgruppe leicht und verständlich zur Verfügung, entsteht automatisch der Kontakt und damit auch die Bereitschaft, Daten dazulassen.“

Enge Zusammenarbeit ist wichtiger denn je

Erfordert ein digitales, datengetriebenes Rx-Marketing nur die passenden „Werkzeuge“ oder ist dafür ein grundsätzliches Umdenken in den Pharmaunternehmen notwendig? Das Umdenken habe durch den pandemiebedingten Wegfall wichtiger Kanäle bereits stattgefunden, sagt Kerstin Dehn. Marketing arbeite heute mit einem ganz anderen Kanal-Mix und sei offener für Experimente. Außerdem herrsche mittlerweile über alle Ebenen hinweg die Akzeptanz und die Bereitschaft, die Chancen der Digitalisierung flächendeckend zu nutzen. „Erfolgreich ist aber nur, wer diesen Weg konsequent geht und klare Entscheidungen trifft“, so Dehn.

„Wenn Pharma ihre Kommunikation individuell auf die Bedürfnisse der einzelnen HCPs anpasst, ihre Vertriebs- und Marketingkanäle zu einer Customer Journey verknüpft, gezielt Informationen über die jeweiligen Facharztgruppen sammelt und analysiert – dann kann Rx-Marketing erfolgreicher werden“, sagt Andreas Kotte. Dabei spreche er bewusst nicht nur über digitales Marketing. „Man sollte die einzelnen Kommunikationskanäle nie als Silo betrachten, wenn man erfolgreiches Marketing betreiben möchte – datengetriebenes Rx-Marketing wird nicht prinzipiell nur in digitalen Kanälen umgesetzt.“

 

asset_image