Herr Seidl, wie ist die Idee zur Nia-App entstanden?
Mein Co-Gründer Oliver Welter und ich hatten 2018 in den USA schon sehr weit fortgeschrittene Trends im Bereich Digital Companionship gesehen, also digitale Begleiter für Patienten mit chronischen Erkrankungen. Hier in Europa waren dagegen noch ganz viele Indikationsfelder komplett unbesetzt. Wir hatten dann recht schnell die Vision, ein patientenzentriertes Produkt zu entwickeln und haben uns auf dermatologische Erkrankungen fokussiert, weil sie sich sehr gut dazu eignen, mit Fotodokumentation zu arbeiten. Eine sehr glückliche Fügung war, dass wir über das „Exist“-Gründerstipendium der Charité gefördert wurden. Im Dezember 2019 haben wir dann Nia Health als eigenständiges Unternehmen gegründet, aber wir kooperieren weiter sehr eng mit der Charité.
Einer größeren Patientenpopulation sind wir erstmals im Sommer 2020 durch die Kooperation mit der DAK bekannt geworden. Mittlerweile haben wir Selektiv- und Kooperationsverträge mit sieben gesetzlichen Krankenkassen, und seit 2021 kooperieren wir auch mit der Industrie. Unter unseren Partnern sind sehr relevante Player aus dem Bereich der Dermatologie wie Pfizer, Sanofi und Leo Pharma.

Mit welchen Erkrankungen beschäftigen Sie sich?
Wir konzentrieren uns auf inflammatorische Erkrankungen. Gestartet sind wir mit der atopischen Dermatitis, also Neurodermitis, und Psoriasis, und haben mit der Nia- und der Sorea-App jeweils ein eigenes, als Medizinprodukt zugelassenes Begleitprogramm. Wir gehen indikationsspezifisch vor, denn wir wollen die Patienten mit ihrer jeweiligen Erkrankung bestmöglich ansprechen und unterstützen.

Inwiefern profitiere ich als Patient, wenn ich eine Ihrer Apps nutze?
Ganz wichtig ist, dass unsere Apps immer eine Ergänzung zu einer medikamentösen Therapie sind. Und sie können nie die ärztliche Behandlung ersetzen. Wir unterstützen die Patienten bei ihrer Therapie mithilfe von klinisch validierten Scores. Diese sind via Gamification in einfache Fragen verpackt. Der Patient soll verstehen, was ihm hilft und was nicht, denn das ist bei jedem Patienten tatsächlich sehr unterschiedlich. Das bedeutet, es braucht ein bisschen Zeit, bis der Patient verstanden hat, was seine Do’s und Don’ts sind. Ärzte haben den Patienten deshalb auch früher schon empfohlen, ein Tagebuch zu führen, aber mit unseren Apps geht das nun strukturierter, intelligenter und komfortabler.

Und was hat der behandelnde Arzt davon?
Die Behandlung von Patienten mit chronischen Hauterkrankungen ist für niedergelassene Dermatologen häufig sehr zeitaufwändig. Denn die Patienten haben einen großen Leidensdruck und ein entsprechend großes Mitteilungsbedürfnis. Sie kamen mitunter mit ganzen Aktenordnern voller Tagebucheinträge und Fotos in die Praxis. Und die waren natürlich nicht in der strukturierten Form und Sprache, die sich der Arzt wünscht. Mithilfe unserer Apps können die Patienten den Verlauf ihrer Erkrankung strukturiert dokumentieren und der Behandelnde kann einen ärztlichen Report bekommen.
Das Thema Dokumentation ist aber nur die eine Säule, die zweite ist das Empowerment. Wir bieten klinisch validierte Schulungsinhalte, verpackt in kleine Videos und Lerneinheiten, die den Patienten dabei helfen, ihre Erkrankung ein Stück weit mehr in die eigene Hand zu nehmen. Das ist wichtig, weil die Patienten, wenn sie Dr. Google konsultieren, ein Problem damit haben, falsche von richtigen medizinischen Informationen zu unterscheiden. Es ist haarsträubend, was für Informationen teilweise im Internet kursieren.

Sie legen auch großen Wert auf das Thema Real World Evidence.
Wir wollen ein ganzheitliches Bild vom Patienten haben und die gesamte Patient Journey nachvollziehen. Denn bisher war es für Industrie eine Blackbox, wie therapie-adhärent sich der Patient tatsächlich verhält. Da kommen wir ins Spiel. Der Patient kann den Matrix-Code auf der Verpackung seines Arzneimittels scannen und dann öffnet sich ein geschlossener Bereich innerhalb der App, der spezifisch auf dieses verschreibungspflichtige Medikament geframt ist. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, den Patienten auf seiner Therapie zu begleiten und ihn mit anwendungsspezifischen Informationen zu versorgen, aber auch ihn besser zu verstehen. Welche Faktoren im Leben des Patienten sind ausschlaggebend? Was können seine Motive gewesen sein, die Therapie zu wechseln oder sie abzubrechen?

Kommunizieren Sie als Anbieter direkt mit den Patienten?
Wir nutzen alle gängigen Online-Kanäle und wir kooperieren mit großen Patientenorganisationen. Der wichtigste Kanal sind aber die niedergelassenen Dermatologen, die ihren Patienten unsere Applikationen empfehlen. Wir sind auf den entsprechenden Fachkongressen vertreten, darüber hinaus haben wir selbst ein kleines Team, das den direkten Kontakt zu den Ärzten sucht, um sie über unsere Produkte aufzuklären. Sehr hilfreich sind unsere Kooperationen mit der Pharmaindustrie, die uns mit ihrer Sales Force ein bisschen huckepack nimmt. Davon profitieren wir, aber auch der Sales Rep hat auf diese Weise eine schöne Möglichkeit, mit einem neuen Thema als Icebreaker zum Arzt zu kommen.

Wie profitiert die Industrie darüber hinaus von Ihren Produkten?
Gerade bei innovativen Therapien ist die Adhärenz ein ganz entscheidender Punkt. Da können digitale Helfer eine sehr sinnvolle Ergänzung sein, und das haben viele in der Industrie verstanden. Ich bin überzeugt, dass der Trend dahin geht, dass irgendwann ganzheitliche Therapien verschrieben werden, dass also nicht mehr zwischen dem Arzneimittel und der digitalen Ergänzungstherapie unterschieden wird, sondern diese beiden Welten immer mehr miteinander verschmelzen.

Und die Krankenkassen, mit denen Sie zusammenarbeiten, empfehlen die Apps Ihren Versicherten?
Genau, wobei jede Kasse einen anderen Fokus in der Vorgehensweise hat. Häufig erhält der Patient einen Brief mit einem Code, mit dem er sich in die App einloggen kann. Diese Kooperationen sind ein wertvoller Kanal bei der Vermarktung, da wir dadurch Zugriff auf eine große Zahl an Versicherten bekommen. Aus Sicht der Krankenkassen ist eine solche Kooperation auch ein Marketinginstrument um zu zeigen, dass man mehr Service bietet und die Versorgungsqualität erhöht.

Wäre ein Status als DiGA für Ihre Apps auch interessant?
Natürlich, und mit dem Thema beschäftigen wir uns aktuell sehr intensiv. Es ist für uns deshalb so spannend, weil wir als DiGA nochmal eine deutlich größere Population erreichen würden. Wir hätten auf einen Schlag eine viel größere Abdeckung und das ist auch unser Ziel: So vielen Patienten wie möglich mit unseren digitalen Therapiebegleitern zu helfen.