Neben den ‚klassischen‘ Anwendungsfeldern in Recherche oder Übersetzung habe man bei K&A BrandResearch in den letzten Jahren vor allem Erfahrungen in der Transkription und Organisation sogenannter unstrukturierter Daten gesammelt, sagt Director BrandPsychology Florian Klaus. Die qualitative Forschung ist das Kernthema von K&A, und psychodramatische Methoden zur Exploration echter Verhaltenstreiber und -barrieren seien die große Stärke des Marktforschungsunternehmens. „Eine Vorstrukturierung qualitativer Ergebnisse ist für K&A daher besonders spannend“, so Klaus. Und genau dort sehe man auch das größte Potenzial von Künstlicher Intelligenz – „vorausgesetzt menschliche Intelligenz, Expertise und vor allem die Fähigkeit, Ergebnisse in die jeweils relevanten Kontexte einzubetten, wird nicht vernachlässigt“. Dann könne KI auch dabei helfen, blinde Flecken zu vermeiden und als zusätzlicher Sparringspartner Perspektiven zu ergänzen.
Bei der Dr. Rönsberg GmbH, einem ebenfalls auf qualitative Marktforschung spezialisierten Unternehmen beschäftige man sich schon seit einiger Zeit mit verschiedenen KI-Tools, berichtet Franziska Thiele, Inhaberin und Mitglied der Geschäftsleitung. In der ersten Phase sei es um das Kennenlernen und Ausprobieren gegangen, in der zweiten Phase hätten der konkrete Nutzen, der Erkenntnisgewinn und die für qualitative Marktforscher wichtige Validierung der Erkenntnisse im Mittelpunkt gestanden. Heute setze man verschiedene KI-Tools in den Bereichen Recherche und Leitfadenoptimierung ein. Entlang der Workflows der qualitativen Forschungsprozesse arbeite man bei Dr. Rönsberg derzeit in einer Art „Test-, Trainings- und Validierungsphase“. „Das bedeutet, dass wir in unseren geschlossenen generativen KI-Systemen mit der Transkription und Analyse von Interviews experimentieren“, erläutert Franziska Thiele. Ebenso arbeite man an einem besonderen Case, dem sogenannten „Pretest AI Gesprächslabor“ nennen. Hierbei gehe es um die Simulation von Gesprächssituationen mit synthetischen Interviews, zum Beispiel mit KI-Ärzten oder KI-Patienten. Für die Zukunft sieht sie Potenzial in KI-gestützten Pretests und somit in hybriden Modellen aus qualitativer und KI-gestützter quantitativer Marktforschung. „Dabei ist die Rollenverteilung klar definiert: KI dient uns als Sparringspartner, nicht als Ersatz“, so Thiele.
Bei Interrogare habe sich im vergangenen Jahr im Bereich KI viel bewegt, berichtet Davin Akko, Senior Consultant und KI-Experte im Team Healthcare Research bei dem Bielefelder Fullservice-Marktforschungsunternehmen. Im „Touchpoint Tracker“ von Interrogare, der dem Echtzeit-Monitoring der Kommunikationsaktivitäten von Pharmaunternehmen mit Ärzt:innen dient, hätten die Kunden aus der Industrie den Wunsch nach noch detaillierteren Antworten der Ärzt:innen und damit nach noch tiefergehenden Erkenntnissen geäußert. Gemeinsam mit dem Kooperationspartner ohja.ai habe man daraufhin „clarifAI“ entwickelt – ein Tool, das KI-gestützte Nachfragen in Echtzeit ermöglicht. Das zugrunde liegende Large Language Model greife immer dann ein, wenn eine Antwort präziser oder ausführlicher gewünscht wird. „Eine KI-generierte Nachfrage bezieht sich dann gezielt auf die ursprüngliche Antwort der Ärzt:innen und wird direkt während des Interviews gestellt“, erkärt Akko. „Je nach Indikation konnten wir bei 13 bis 18 Prozent unserer Interviews gezielt nachfragen und dadurch die Antworten der Ärzt:innen inhaltlich deutlich vertiefen – was sowohl für uns als auch für unsere Kund:innen einen spürbaren Mehrwert geschaffen hat.“

V.l.n.r.: Florian Klaus (K&A BrandResearch), Davin Akko (Interrogare), Franziska Thiele (Dr. Rönsberg)
Außerdem zeige sich, dass der Erfolg in der Kommunikation von Studienergebnissen entscheidend davon abhängt, komplexe Inhalte so aufzubereiten, dass sie in den verschiedenen Organisationsbereichen der Kunden leicht verständlich und anschlussfähig seien. „Umfangreiche Berichte und komplizierte Diagramme erschweren häufig die Weitergabe zentraler Erkenntnisse. Hier sehen wir großes Zukunftspotenzial in unseren quellenbasierten Persona-Avataren, kurz Qupas. Dabei handelt es sich um KI-gestützte, datenbasierte Avatare, die auf realen Studienergebnissen und Interviews beruhen. Im Unterschied zu anderen KI-Ansätzen im Bereich digitaler Zwillinge oder synthetischer Daten basiert jeder einzelne Qupa auf den Daten einer tatsächlich befragten Person“, erklärt Davin Akko.
Diese „Qupas“ können im Anschluss an quantitative Befragungen eingesetzt werden, um die Analyse der Marktforschungsergebnisse zu vertiefen. Sie ermöglichen es, interaktiv Fragen zu stellen und qualitative Antworten zu erhalten – gestützt auf die realen Einstellungen und Einschätzungen echter Ärzt:innen. „Bei der Entwicklung stand für uns im Vordergrund, die Entstehung sogenannter KI-Halluzinationen zu vermeiden und typische ‚Mainstream‘-Tendenzen – im Sinne eines stochastischen Papageis – zu verhindern“, so der KI-Experte. Daher setze man bei den Qupas auf Retrieval-Augmented Generation (RAG): Jede Antwort greife gezielt auf relevante, bereits erhobene Daten zurück – aus quantitativen Studien, Tiefeninterviews oder Segmentierungen. So entstehe ein realistisches, konsistentes und nachvollziehbares Antwortverhalten. Mittelfristig sollen die Qupas eine fundierte, realitätsnahe und qualitativ wertvolle Ergänzung zu den quantitativen Daten von Interrogare darstellen.
■ Medizinische Kommunikation oft komplex, vielschichtig und emotional
Wodurch sich die Healthcare-Marktforschung von der in anderen Branchen unterscheidet, ist vor allem die hohe Sensibilität der erhobenen Daten. Dabei gehe es insbesondere um personenbezogene Informationen von Patient:innen, Ärzt:innen oder anderen medizinischen Fachkräften sowie um unternehmensinterne Daten der Kunden. „Entsprechend sind sowohl Datenschutz – also die klare Regelung, wer welche personenbezogenen Daten zu welchem Zweck verarbeiten darf – als auch Datensicherheit – insbesondere der Schutz kundeneigener Informationen vor unbefugtem Zugriff, etwa durch unsichere Cloud-Lösungen – grundlegende Voraussetzungen für jedes neue KI-Tool in diesem Bereich“, betont Akko. Darüber hinaus spiele aber auch die Wahrnehmung der Befragten gegenüber neuen Technologien eine entscheidende Rolle. Insbesondere bei Ärzt:innen sei es wichtig, eine gewisse Akzeptanz, beispielsweise für KI-gestützte Nachfragen, zu etablieren. „Diese hängt stark davon ab, ob die KI-generierten Fragen als sinnvoll, respektvoll und inhaltlich passend empfunden werden“, so Davin Akko. Eine automatisierte Nachfrage dürfe nicht „technisch“ wirken, sondern müsse als natürlich und relevant wahrgenommen werden. Das erfordere ein kontinuierliches Qualitätsmanagement und eine sorgfältige Feinjustierung der Modelle.
Franziska Thiele nennt Datenschutz und die medizinische Kontexttreue als zentrale Themen und Besonderheiten der Healthcare-Marktforschung. KI müsse daher mit hochsensiblen Informationen umgehen können, ohne Rückschlüsse auf einzelne Personen oder Patient:innen zuzulassen. „Zudem ist medizinische Kommunikation oft komplex, vielschichtig und emotional, sodass generative Modelle hier schnell an ihre Verständnisgrenzen stoßen“, sagt Thiele. Ein weiterer Punkt seien Regulatorik und Compliance: Während KI in der Konsumentenforschung vergleichsweise frei experimentieren könne, müsse im Healthcare-Bereich jede Anwendung auf ethische und datenschutzrechtliche Konformität geprüft und natürlich auch von den Auftraggebern freigegeben werden. Thiele: „Die Herausforderung besteht darin, Innovation und Verantwortung in Balance zu halten.“
Auch Florian Klaus nennt Regulation und Datenschutz als spezielles Thema der Healthcare-Branche, aber auch die intellektuell herausfordernden Fragestellungen der Healthcare-Forschung seien zu nennen. „Gerade in Healthcare besteht unabhängig von der eingesetzten Methode die besondere Gefahr, Rationalität, Sachlichkeit oder – verhaltenspsychologisch gesprochen – die sogenannte ‚Nutzenmaximierung‘ als Verhaltensmotiv überzubetonen“, sagt er. Ein Arzt sei natürlich kein „homo oeconomicus“, wie ihn KI gerne unterstelle. Und davon abgesehen lägen in vielen HCP-Zielgruppen einfach viel zu wenige Trainingsdaten vor, um realistische KI-Ableitungen zu treffen.
■ Authentisches Verständnis des Menschen im Kontext seiner jeweiligen Alltagsbedingungen
In der qualitativen Forschung stünden Kontext, Bedeutung und Empathie im Mittelpunkt – und das seien genau die Bereiche, in denen KI an ihre Grenzen stoße. „Der Mensch ist beim Verstehen nonverbaler Signale, beim Interpretieren psychologischer und kultureller Nuancen sowie bei der ethischen Bewertung sensibler Themen unverzichtbar“, betont Franziska Thiele. „Unsere Aufgabe als Forschende besteht darin, zwischen ‚Datenrauschen‘ und ‚echten Erkenntnissen‘ zu unterscheiden und Hypothesen kritisch zu prüfen. Auch im Dialog mit Patient:innen, Ärzt:innen und Stakeholdern seien menschliche Intuition und Erfahrung weiterhin unerlässlich, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit sicherzustellen und verwertbare Erkenntnisse zu gewinnen. Mittlerweile seien auch die Phänomene KI-Autophagie und KI-typische Halluzinationen bekannt, die eine valide Marktforschung ad absurdum führen würden. In der primären Marktforschung gehe es um die methodisch saubere Erhebung von Daten und nachvollziehbare Datenwege. „KI-Tools, die Daten-Black-Boxes sind und Bias-getriebene Daten verwenden, haben in der Marktforschung keinen Platz!“, betont Thiele.
Die weitere Entwicklung von KI und KI-basierten Lösungen kurzfristig vorherzusehen, sei extrem schwierig. Insofern seien endgültige Aussagen hier mit großer Vorsicht zu genießen, sagt
Florian Klaus. Nach heutigem Stand sehe er aber insbesondere in der Erhebung qualitativer Daten, also seitens der Zielgruppe und der Gesprächsführung im Sinne von Interviews oder Moderation keine Alternative zum Menschen. „Weder HCP-Avatare noch KI-Interviewer leisten, was qualitative Forschung am Ende wertvoll macht: Ein authentisches Verständnis des Menschen im Kontext seiner jeweiligen Alltagsbedingungen.“ Dazu gehöre neben analytischem Feingefühl und Kontext-Wissen auch der Aufbau und die Arbeit auf einer wertschätzenden Beziehungsebene, sei es im Einzel- oder im Gruppen-Setting, online oder offline, so Klaus.
Die Healthcare-Marktforschung sei ein äußerst dynamisches Umfeld. Kurzfristige Entwicklungen – etwa neue Ergebnisse aus Phase-III-Studien oder aktualisierte Leitlinien – könnten den Markt in kürzester Zeit maßgeblich verändern, so Davin Akko. Solche plötzlichen Veränderungen ließen sich durch aktuelle KI-Modelle aber bislang nur sehr eingeschränkt abbilden. Gerade diese dynamischen Aspekte seien jedoch für die Kunden entscheidend, um frühzeitig handeln und mit geeigneten Maßnahmen reagieren zu können. „Die Einordnung solcher Zusammenhänge erfordert aus unserer Sicht nach wie vor den menschlichen Blick, der Kontext, Erfahrung und Intuition vereint“, stellt Akko fest. Aktuelle Studien würden zudem zeigen, dass Large Language Models zwar leistungsfähig, aber auch unzuverlässig seien, wenn es um die Bewertung psychologischer oder moralischer Dimensionen geht. „Um menschliches Verhalten – etwa die Entscheidungsprozesse von Ärzt:innen bei der Wahl bestimmter Therapien – wirklich zu verstehen, bleibt menschlicher Input unverzichtbar“, betont Akko. „KI kann unterstützen und beschleunigen, doch die Validierung, Interpretation und Einordnung der Ergebnisse bleibt eine zentrale Aufgabe der Marktforschenden.“
