Der Digitale Zwilling

02.11.2021 18:05
Als Ingenieur und Thoraxchirurg beschäftigt sich Dr. André Nemat intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen medizinisch-technischer Innovationen. Als Gründer des Institute for Digital Transformation in Healthcare an der Universität Witten-Herdecke interessieren ihn die sozialen und ethischen Folgen des digitalen Fortschritts. Er will dieses Feld nicht Google, Apple & Co. überlassen, sondern seiner Überzeugung nach müssen gerade Ärzte die digitale Transformation der Medizin mitgestalten. Als Keynote Speaker beim MESH-Camp 2021 der antwerpes ag stellte er das Konzept des Digitalen Zwillings vor.

>> „Der Mensch wird in Zukunft eine große Datenplattform sein“ – mit dieser Aussage startete Dr. André Nemat seine Keynote zum Start des MESH-Camps. Die entscheidende Frage sei dabei, wem die Daten gehören und wer von ihnen profitiere. Denn angesichts der Tatsache, dass wir uns „atemlos“ in Richtung einer technologisierten Medizin bewegen, müsse man sich auch damit beschäftigen, wie der Mensch trotzdem im Mittelpunkt bleibe. Die rasante Veränderung der Medizin biete die Chance auf Innovationen, aber berge auch Risiken und Nebenwirkungen – wie das Konzept des Digitalen Zwillings.

Der Begriff des Digitalen Zwillings ist nicht etwa neu, sondern bereits rund 50 Jahre alt, wie Nemat erläuterte. Denn seinen Ursprung hat er in der – auch durch den gleichnamigen Hollywood-Film berühmten – „Apollo 13“-Weltraummission („Houston, we‘ve had a problem!“). Etwa 50 Stunden nach dem Start ereignete sich eine Explosion in einem der Sauerstofftanks, und circa 18 Stunden später konnten die drei Astronauten wieder auf der Erde landen. In Bezug auf den Digitalen Zwilling, so Nemat, sei das Spannende, dass es das Team innerhalb dieser 18 Stunden geschafft habe, einen Simulator, der eigentlich nur für Trainigszwecke gedacht war, mit ihren Rechenmaschinen zu verknüpfen. So konnten sie verschiedene Rechenoperationen gleichzeitig ausführen und die Probleme durch Simulationen so weit lösen, dass eine Rückkehr zur Erde möglich war.

„Im Grunde genommen ist das die Geburt der Idee eines Digitalen Zwillings gewesen“, betonte Nemat. Und wie so häufig seien anschließend Erkenntnisse aus der Raumfahrt von der Automobilindustrie übernommen und adaptiert worden, wo sie mittlerweile auch schon in Produkte übersetzt worden seien. Vorreiter sei hier Tesla mit dem Thema „predictive maintenance“: Die Autos seien aufgrund ihres digitalen Abbildes in der Lage, durch Simulationen bestimmte Entwicklungen vorauszusagen. „Das Auto meldet beispielsweise, dass man in den nächsten 20 Tagen eine Werkstatt aufsuchen sollte, um einen Schaden zu verhindern, der noch gar nicht eingetreten ist“, beschreibt Nemat das Prinzip.

Und genau das sei das Mehrwertversprechen „dieser Abbildung des komplett Analogen ins Digitale“, das die Automobilindustrie schon sehr weit umgesetzt habe. Autos seien heute fahrende Computer, ihr digitales Abbild werde schon während der Produktion erstellt und dann in der Nutzung des Fahrzeugs ständig upgedatet. Das sei aber nur möglich, weil in den Fahrzeugen enorm viel Sensorik verarbeitet sei, die in Echtzeit all die Daten liefere, die man wiederum für den Abgleich mit dem Digitalen Zwilling benötige – es geht also nicht um einen statischen, sondern um einen sehr dynamischen Prozess.

Der Mensch, "ein sehr datenarmes Wesen"

Vor diesem Hintergrund stelle sich aber die Frage, was das Thema Digitaler Zwilling mit uns Menschen zu tun habe, und da liege die Idee nahe, „dass auch wir mit unseren Daten mehr machen können, als das bisher der Fall ist“. Denn bis jetzt sei der Mensch ein sehr datenarmes Wesen gewesen – die Daten, die erhoben werden konnten, waren Gewicht, Größe, Blutdruck, Puls und vielleicht auch noch der eine oder andere Blutwert. Mittlerweile würden wir uns aber alle in einem digitalen Ökosystem bewegen, in dem sehr viele Daten an ganz unterschiedlichen Stellen erhoben werden, und zwar auch solche Daten, die zwar nicht unmittelbar etwas mit unserem aktuellen Gesundheitszustand zu tun haben, die aber durchaus für Gesundheitszwecke genutzt werden könnten.

„Ähnlich wie beim Auto, das eine Menge Sensorik verwendet, haben wir inzwischen auch eine Vielzahl an Technologie, die am Menschen oder im Menschen ist“, sagte Nemat, sich auf Wearables, Attachables und Insidables beziehend. Wir alle trügen mittlerweile eine fortgeschrittene Technologie mit uns herum, und eine Smartwatch enthalte mittlerweile mehr Sensorik als es sie in vielen Arztpraxen gebe.

An dieser Uhr, die sogar bestimmte Herzrhythmusstörungen diagnostizieren könne, werde deutlich, dass eine immer bessere und genauere Diagnostik möglich sei, aber auch die Therapien würden immer schonender und immer präziser. Eine Tatsache, die Nemat, der nicht nur Mediziner, sondern auch Ingenieur ist, begeistert, weshalb er schon sehr früh mit minimalinvasiver Chirurgie agiert und genauso auch Roboterchirurgie eingesetzt hat. Er stellt aber auch fest: „Trotz all der faszinierenden Technologie ist das Prinzip, zunächst einen Befund zu erheben, im nächsten Schritt eine Diagnose zu stellen und dann eine Therapie anzuschließen, unverändert geblieben. Es war immer ‚find & fix‘ – man hat etwas gesucht und dann hat man es repariert.“ Natürlich sehe dieses Reparieren mittlerweile sehr viel vertrauenserweckender aus und nicht mehr ganz so schlimm und brutal wie in früheren Zeiten, aber am Prinzip habe sich nichts geändert.

Die Vision: Gar nicht mehr krank werden

Wenn die Digitalisierung und das Prinzip des Digitalen Zwillings ein Qualitätsversprechen habe, dann bestehe das nicht darin, einfach nur noch besser als bisher behandelt zu werden – das sei nur ein Zwischenschritt. Die Vision sei, dass Prädiktion und Prävention in einer Qualität möglich seien, dass wir gar nicht mehr krank werden. Es gehe also nicht darum, immer besser zu „finden“ und zu „fixen“, wie es in der Gegenwart die personalisierte Medizin und die Präzisionsmedizin tun. Das sei zwar toll, aber das Zukunftsversprechen laute Predict & Prevent. Das heißt, dass wir – ähnlich wie ein Tesla-Auto – aus unserer digitalen Umgebung die Erkenntnis gewinnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein gesundheitliches Problem eintritt.

Nemats Beispiel: Es wäre doch wirklich von Vorteil, wenn man einer Patient:in sagen könnte, wenn du dich weiter so ernährst, wenn deine köperlichen Aktivitäten weiterhin das Maß haben, das sie jetzt haben, und wenn du weiter so viele Zigaretten rauchst, wirst du mit einer 93-prozentigen Wahrscheinlichkeit in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt erleiden. Und gleichzeitig würde die Patient:in aber auch die Information bekommen, die sie braucht, um das zu verhindern. „Da ist das Versprechen“, so Nemat.

Damit passiere aber auch zum ersten Mal etwas, das den alten Menschheitstraum, immer älter und irgendwann mal unsterblich zu werden, greifbar werden lasse. „Denn man kann den kompletten Alterungsprozess auch als chronische Erkrankung begreifen, und mithilfe des Digitalen Zwillings versuchen, ihn aufzuhalten.“

Es sei zwar noch eine Vision, dass irgendwann niemand mehr krank wird und alle gesund sind, aber es gebe auch schon die ersten konkreten Anwendungen in diesem Bereich. Beispielhaft nannte Nemat eine aktuelle Phase-II-Studie zu einer Genomtherapie bei Patient:innen mit Verdacht auf Lungenkrebs. Und das sei eben das Besondere daran, dass der Lungenkrebs noch gar nicht festgestellt sei. Es gebe einen Befund in Form eines Röntgenbildes, das eine Veränderung in der Lunge zeige, die ein Krebs sein kann, aber nicht sein muss. Mithilfe von Daten würden die Patient:innen einem Risikoprofil zugeordnet, das eine Aussage darüber zulässt, mit welcher Wahrscheinlichkeit es sich um einen Lungenkrebs handeln könnte.

„Kein Arzt würde aufgrund des Röntgenbildes die Lunge operieren oder eine Chemotherapie verordnen, bevor der Krebs nicht bewiesen ist“, so Nemat – also das traditionelle „find & fix“. In der Studie wird aber die Therapie alleine aufgrund der Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung begonnen. „Es mag also sein, dass wir eine Reihe gesunder Menschen behandeln, die im schlimmsten Fall eine Nebenwirkung haben, es kann aber auch sein, dass man damit gleichzeitig Menschen erreicht, die einen Lungenkrebs bekommen hätten, ihn aber nun nicht bekommen, weil wir ihn präventiv behandelt haben“, erklärte Nemat das Prinzip.

"Digital shadow" – "digital me" – "digital twin"

In Bezug auf den Digitalen Zwilling seien drei Entwicklungsphasen definiert: Der „digital shadow“ sei der Zustand, in dem von einem Menschen Daten erhoben werden, ohne dass er das weiß, oftmals auch gegen seinen Willen. Lädt man sich bewusst eine App herunter und interagiert in irgendeiner Form mit ihr, ist der Zustand des „digital me“ erreicht. „Und wenn irgendwann mal die gesamte Summe aller unserer Daten in der Lage wäre, unabhängig vom analogen Ich selbstständig mit anderen Systemen zu interagieren, dann würden wir vom ‚digital twin‘ sprechen, dafür ist auf der technologischen Ebene eine ganze Menge erforderlich“, so Nemat.

Was die positiven Aspekte betreffe – nicht krank zu werden, keine Therapieerfordernis zu haben, lange gesund zu leben – dann seien das alles Themen, bei denen wohl jeder zustimmen könne. Aber, so Nemat, der sich nicht nur mit den medizinischen, sondern auch den sozialen und ethischen Folgen des digitalen Fortschritts auseinandersetzt: „Man muss auch dahinterblicken, insbesondere auf diejenigen, die die Daten sammeln können und die in der Lage sind, sie zu anlysieren und sie eventuell über lernende Systeme zu automatisieren.“ Denn dann sei eben nicht eine gute, eutrophe Vision möglich, sondern genauso eine dystrophe, denn Daten könnten nun mal zu allen möglichen Zwecken verwendet werden. Nemat warnte vor einer Konzentration von Daten an Orten, an denen die kommerzielle Auswertung dieser Daten im Vordergrund steht und nannte die Stichworte Überwachungskapitalismus auf der einen und Plattformkapitalismus auf der anderen Seite. Denn auch im Gesundheitskontext sehe man natürlich wieder die „üblichen Verdächtigen“, nämlich Firmen wie Google, Apple und Facebook.

„Wir können uns eine unkritische Naivität nicht mehr leisten, und zwar in keinem Lebensbereich mehr“, so Nemats eindringlicher Appell. Wenn wir alle unsere Daten, und zwar bereits pränatal und dann über unser ganzes Leben hinweg, erheben und sie dann jemandem geben, der uns dafür etwas zurückgibt, zum Beispiel medizinische Dienstleistungen, dann könne das gut sein, aber es müsse es eben nicht sein. „Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was das morgen für uns bedeutet, welche Entscheidungen wir damit auch abgeben und an wen wir sie abgeben.

Ärzt:innen sind aus Nemats Sicht diesbezüglich wohl nicht die richtigen Ratgeber – jedenfalls aktuell nicht – denn die Mediziner:innen gehörten im Prinzip schon zu den Abgehängten der Digitalisierung. „Es gibt nur ganz wenige, die sich tatsächlich mit diesen Themen beschäftigen.“ Die letzten 20 Jahre seien in der Medizin von einer Ökonomisierung geprägt gewesen, nun sei es aber erforderlich, mehr Technologieverständnis an den Tag legen. Denn die Ärzt:innen, welche die „letzte Meile“ verantworten, würden sich zwar mit Wirkungen und Nebenwirkungen von Pharmaka, die sie verschreiben, auskennen, „aber kein Arzt kann Ihnen sagen, was die Wirkungen und Nebenwirkungen von digitalen Anwendungen sind“.

Nach André Nemats Überzeugung sind Ärzt:innen in der Pflicht, diese Themen mitzugestalten, denn man dürfe nicht die Kontrolle darüber verlieren, sonst entscheide irgendwann eine Künstliche Intelligenz. „Entscheiden muss immer der Mensch!“ <<

Ausgabe 11 / 2021

Digital Health